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Vortrag Anfang Oktober 2003 auf einem Symposium zum Thema Sterben und Tod

Tod in der Mediengesellschaft:

Der flüchtige Tod und Bestattungsrituale im Übergang

Norbert Fischer (Universität Hamburg)

Die gesellschaftlichen Veränderungen seit dem späten 20. Jahrhundert, im postindustriellen Zeitalter also, haben alte, über Jahrzehnte hinweg eingeschliffene Denk- und Verhaltensmuster aufgelöst. Neben und abseits der bekannten festen Strukturen und Institutionen sind neue Lebenswelten entstanden, die mit Stichwörtern wie Individualität, Flexibilität, Pluralität charakterisiert werden. Soziologen konstatieren eine durchgreifende Partikularisierung, also Aufsplitterung der Lebenswelten im postindustriellen Zeitalter. Sie beruht auf grundlegenden Veränderungen der sozialen und wirtschaftlichen Koordinaten: verringerte Wochen- und Lebensarbeitszeit, kurzfristiges Job-Denken statt lebenslanger Berufsplanung, nachlassende Bedeutung familiärer Bindungen, rasch wachsende Mobilität und Kommunikationsmöglichkeiten über alle räumlichen Grenzen hinweg. Räume und Zeiten werden anders wahrgenommen als früher.

Diese Veränderungen berühren auch den Umgang mit dem Tod. Dabei treten ganz unterschiedliche, ja widersprüchliche Entwicklungen hervor: einerseits die rasant zunehmende Zahl von namen- und zeichenlosen Rasenbeisetzungen („anonyme Bestattung“), andererseits ganz neue Formen und Orte im Umgang mit dem Tod, wie die Kreuze am Straßenrand und die digitalen Gedenkseiten im Internet. In Einzelfällen hat sogar der Gesetzgeber bereits auf die neuen gesellschaftlichen Bedürfnisse reagiert – wie das neue, seit dem 1.9. geltende nordrhein-westfälische Bestattungsgesetz mit seiner Aufhebung des Friedhofszwanges für Aschenbeisetzungen zeigt.

Wie sah der Umgang mit dem Tod vorher aus? Im Verlauf der modernen bürgerlichen Gesellschaft, also seit dem 18. Jahrhundert, wurden die Abläufe bei Tod und Bestattung immer mehr in funktionale Einzelelemente zerlegt. Sie schienen dadurch auch kontrollierbarer – die bürokratischen Vorschriften im Bestattungswesen sind hier nur eines von vielen Beispielen. Der Soziologe Klaus Feldmann schrieb in seiner 1990 erschienenen Studie über „Tod und Gesellschaft“, dass diese Kontrolle des Todes Ergebnis der modernen Rationalisierungsprozesse ist: „Der zentrale objektive Unterschied zwischen modernen und traditionellen Geselschaften besteht in der Art und Wirksamkeit der Kontrolle des Todes.“ Feldmann zufolge unterliegt in modernen Gesellschaft auch der Tod „...einer starken medizinischen, rechtlichen und bürokratischen Kontrolle“. Diese Bürokratisierung hat den Menschen ihren Tod aus den Händen genommen. Daher fehlt es an konkreter Erfahrung und Sprache im Umgang mit dem Tod. Die zunächst entlastende Wirkung bürokratischer Abläufe hat zur Unfähigkeit geführt, Tod und Trauer eigenständig zu verarbeiten. Auch die demographischen Entwicklungen, insbesondere die gestiegene Lebenserwartung, haben die konkrete Erfahrung des Todes verändert. Viele Menschen leben heute jahrzehntelang, ohne im engeren familiären Umfeld jemals mit dem Tod konfrontiert worden zu sein. Notgedrungen sind daher die alltäglichen Vorstellungen vom Tod aus zweiter Hand geprägt.

Eine wichtige Begleiterscheinung sind die bis in die Gegenwart hinein anhaltenden Säkularisierungstendenzen. Vor allem in Großstädten wurden kirchliche Zeremonien zunehmend reduziert, ersetzt oder gänzlich aufgegeben. Immer mehr Trauerfeiern sind nicht-kirchlich und werden von weltlichen Trauerrednern durchgeführt. Als besonders gravierend erwies sich die Entkirchlichung in der ehemaligen DDR. In Ost-Berlin waren im Jahr 1976 bereits 77,5% aller Bestattungen nicht-kirchlich.

Allgemein ist eine zunehmende „Entritualisierung“ festzustellen. Sie zählt zu den wichtigsten Tendenzen der Bestattungskultur im Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert. Diese „Entritualisierung“ wird definiert als „das Nachlassen aller gemeinschaftsbezogenen Riten anläßlich des Todes“, welches verbunden ist mit einer Individualisierung und Privatisierung von Trauerbekundungen sowie mit einer potentiellen Abkehr vom Friedhof als traditionellen Ort der Trauer.

Was ist an ihre Stelle getreten? Heute sind es vor allem die Medien wie Film und Fernsehen, die das Bild vom und die Einstellung zum Tod prägen. Ist der Tod, wie gesagt, im privaten Alltagsleben faktisch abwesend, so erscheint uns seine Präsenz in den Medien fast aufdringlich. Dem Rückgang des primären Todeserlebnis steht die Allgegenwart des über die Medien vermittelten Todes gegenüber. Das führt nicht zuletzt dazu, dass man sich den Tod im Allgemeinen als Gewaltakt vorstellt: als Unfall, Mord, Krieg oder Naturkatastrophe. Der „normale“ Tod ist aus Sicht der Medien nur dann interessant, wenn er prominente Zeitgenossen betrifft.

Das Bild aber, das uns Film und Fernsehen vom Tod vermitteln, ist „immateriell“, abstrakt. Der Tod erscheint uns daher als der Tod des Anderen, wir goutieren ihn – beruhigend zu wissen, dass die, die in Film und Fernsehen sterben, weit entfernt von uns selbst sind. Die Inszenierungen des Todes selbst sind vielfältig: Man denke an die mediale Aufbereitung des Fallschirm-Todes des FDP-Politikers Jürgen Möllemann Anfang Juni dieses Jahres ¥ Möllemanns Tod wurde zur „Bilderrede“, schrieb die „Süddeutsche Zeitung“. Ein ebenfalls aktuelles Beispiel ist die demonstrative Präsentation der toten Saddam-Söhne im Fernsehen durch die US-amerikanische Regierung ¥ einerseits glaubten viele Iraker trotz der Bilder nicht an den Tod der „Despoten-Söhne“, und andererseits geriet die Darstellung in den westlichen Ländern zu einer regelrechten Unterhaltungsshow.

Dieses mediale Bild vom Tod hat jene traditionellen Verhaltensmuster und Rituale abgelöst, die auf konkreten sozialen Kontakten beruhten. Damit hat der Tod seine feste gesellschaftliche Verortung verloren – im wahrsten Sinn des Wortes: Die zumindest in den Städten immer beliebtere anonyme Bestattung ist die Ausdrucksform einer Gesellschaft, in der eine besondere emotionale Bindung an bestimmte Gedächtnisorte keinen Sinn mehr zu haben scheint. Immer weniger gibt es also in der Öffentlichkeit die sinnlich-konkrete Präsenz von Tod, Trauer und Erinnerung – auch eine Folgeerscheinung medial vermittelter Flüchtigkeit …

So verwundert es nicht, dass sich Umgang mit den Toten zu einer Angelegenheit für Bestatter, Techniker und Friedhofsbürokraten entwickelt. Nur noch wenige Relikte sind erhalten geblieben von jener emotionsgetönten Trauerkultur, die das Bürgertum im 19. Jahrhundert zelebrierte. Aus einem einst rätselhaften, vielgedeuteten Mythos ist ein praktisches, delegierbares Problem geworden. Bei der anonymen Bestattung wird der zeremonielle Aufwand immer weiter reduziert. Ein bedeutsamer Grund für die wachsende Popularität der anonymen Bestattung sind die geringen Kosten, resultierend vor allem aus dem Verzicht auf Grabstein und Grabpflege. Andere Aspekte verweisen auf gesellschaftliche Veränderungen: nachlassende familiäre Verbindungen machen das traditionelle Familiengrab zu einem Anachronismus. Auch die Sepulkralkultur wird also von der „Exterritorialisierung moderner Gesellschaften“ erfasst, wie es der Soziologe Helmut Willke nannte.

Diese Entwicklungen zeugen davon, dass sich die Beziehungen zu den Erinnerungsorten in einem grundlegenden Sinn verändert haben – und damit auch zu den Orten von Tod und Trauer. Die neuen, partikularisierten Lebenswelten zeigen eher einen „Durchgangs“-Charakter. Sie lassen sich mit jenen „Nicht-Orten“ vergleichen, wie sie der französische Ethnologe Marc Augé beschrieb. Man geht zu ihnen eine nurmehr flüchtige Beziehung ein. Das Flüchtige wird zum Selbstverständlichen und
lässt alles Dauerhafte als historisches Relikt erscheinen.

Die Medien, insbesondere das Fernsehen, spielen dabei, wie gesagt, eine Schlüsselrolle (auf das Internet werden wir später noch eingehen). Sie tragen dazu bei, die Erfahrung des Todes abstrakter zu gestalten, den Tod in Distanz zum eigenen Leben zu bringen. Vor allem das Fernsehen hat die zuvor getrennten Bereiche von Privatheit und Öffentlichkeit miteinander vermischt. Da das Öffentliche über den Bildschirm in die privaten Wohnstuben eindringt, bedarf es keiner besonderen öffentlichen Räume mehr – schon in seinem Fernsehsessel ist der Zuschauer Teil einer medialen Gemeinschaft. Für den Umgang mit dem Tod hat das weitreichende Folgen: „Tatsächlich ist die menschliche Erfahrung des Todes heute größtenteils medial vermittelt, der Tod existiert für die meisten Menschen nur in seiner Reproduktion. Ein Todesfall außerhalb der Familie wird nur dann wahrgenommen, wenn er über technische Bilder medial vermittelt ist, nur der reproduzierte immaterielle Tod ist den Menschen vertraut. Da die meisten Menschen nur selten einen ‚realen’ toten Körper zu Gesicht bekommen, liefern die Medien den Stoff für das Todesbild …“. Zu einem der bewegendsten Beispiele für die Macht dieser medialen Inszenierung wurde vor wenigen Jahren die Trauer um die tödlich verunglückte Prinzessin Diana im Jahr 1997.  Sie dokumentierte weltweit die zentrale Rolle der Medien für die öffentliche Inszenierung von Trauer –Was darüber hinaus bleibt, ist die Feststellung, dass der Tod Dianas rein gar nichts Privates mehr zeitigte. Die „Öffentlichkeit ihres Todes“ hob auch noch das Privateste auf, was der Mensch hat: seinen eigenen Tod – und charakteristischerweise spielten in der Zeit der Trauer eher die Medien die Hauptrolle als die Hinterbliebenen.

Umgekehrt haben jene sozialen Kollektive, die im Vor-Medien-Zeitalter die Sterbenden und Toten begleiteten und die entsprechenden Rituale praktizierten, ihre Bedeutung weitgehend verloren: also die Nachbarschaften oder die Zünfte, Genossenschaften oder auch Arbeitervereine und Gewerkschaften. Immerhin üben bis heute –vor allem auf dem Land - die Kirchengemeinden sowie natürlich die Familie weiterhin die Rolle aus, die Toten auf ihrem letzten Weg zu begleiten. Sonst aber, so scheint es, ist die sinnlich-konkrete Erfahrung von Sterben und Tod in der Mediengesellschaft weithin verloren gegangen. Das aber hat Folgen für jene gemeinschaftlichen Rituale, die die Geschichte des Umgangs mit dem Tod so sehr geprägt hat. Die eigene soziale (Selbst-)Verpflichtung zur Trauer im öffentlichen Raum – etwa in Trauerzügen auf der Straße ¥ entfällt, weil der öffentliche Raum im Vergleich zur Bilderwelt des Fernsehens eine immer geringere Rolle spielt.

An sich allerdings ist die Darstellung des Todes durch Medien kein ausschließliches Phänomen der Gegenwart. In der Frühen Neuzeit wurden Totentänze massenhaft gedruckt, in der sich entfaltenden Presselandschaft des 18. Jahrhunderts kam die Todesanzeige auf -  damals kritisierte man noch die vermeintlich negativen Auswirkungen auf Kranke, weil auch die Todesursache genannt wurde. In ihrer Frühzeit war die Todesanzeige übrigens ein Mittel von Geschäftsleuten, notwendige gewerbliche Veränderungen mitzuteilen. Erst im 19. Jahrhundert wurde die Todesanzeige im Bürgertum auch zum Ausdrucksmittel privater Trauer.

Auch der Vorläufer von Film und Fernsehen, also die Fotografie, steht als Medium in engem Zusammenhang mit dem Tod. In den familiären Fotoalben wurden wahre „Totenreiche“ errichtet (D. Kittler). Im Foto vermeint man, die Präsenz längst Verstorbener aufrecht erhalten zu können. Sieht man einmal vom protestantisch-bilderfeindlichen Norden Europas ab, so findet man auch auf Grabmälern häufig Fotografien der dort Bestatteten. 

Neben Foto, Film und Fernsehen darf natürlich ein Medium nicht fehlen, dass unseren Alltag in zunehmenden Maße bestimmt: das Internet. Auch hier ist der Tod in zunehmenden Maße präsent. Wichtiger noch: Das Medium Internet hat neue Ausdrucksformen von Tod und Trauer hervorgebracht. Die wachsende Zahl der Internet-Gedenkseiten zeigt, wie rasch sich der Umgang mit Tod und Trauer auch den neuen Medien der postindustriellen Gesellschaft anzupassen vermag. Diese virtuellen Gedenkseiten sind Teil eines globalen Kommunikationsnetzes, das Privatheit und Öffentlichkeit in eine neue Beziehung zueinander setzt und einen bedeutsamen soziokulturellen Indikator des gegenwärtigen Umgangs mit dem Tod darstellt. Sites mit Namen wie „World Wide Cemetery“, „Garden of Remembrance“ oder „Virtual Memorial Garden“ werden häufig als „virtuelle Friedhöfe“ bezeichnet. Statt an Friedhöfe erinnern diese Gedenkseiten jedoch eher an die Epitaphien mittelalterlicher Kirchen, die unabhängig vom eigentlichen Bestattungsort dem Totengedächtnis dienten. Manche Einträge umfassen seitenlange (Lebens-) Geschichten, persönliche Dokumente wie Tagebuchaufzeichnungen, Fotos, Videos, Musik, Erinnerungsobjekte. Die Möglichkeit, elektronische Botschaften zu hinterlassen, erinnert an die Kieselsteine, mit denen die Besucher jüdischer Friedhöfe den Toten ihre Reverenz erweisen. In ihrer Gesamtheit werden die Gedenkseiten mit einer riesigen labyrinthischen Erinnerungsstätte verglichen, in deren bisweilen mehreren tausend Einträgen man beliebig „spazieren“ kann. Jenseits dieser privaten Gedenkseiten gibt es auch solche für berühmte Verstorbene sowie kollektive Erinnerungsseiten, zum Beispiel für Kriegsgefallene. „Virtuelle Friedhöfe als Teil eines globalen kommunikativen Netzes setzen die private und die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Tod in eine neue Beziehung zueinander und stellen daher einen soziokulturellen Indikator gegenwärtiger Erinnerungs- und Trauerkultur dar,“ heißt es in einer wissenschaftlichen Studie zu diesem Phänomen.

Es sind vor allem Angehörige der sozialen Bildungselite, die das Angebot digitaler Gedenkstätten nutzen. So verweisen die Gründe für die Einrichtung und Nutzung virtueller Gedenkseiten, wie bereits bei der Rasenbeisetzung, auf die partikularisierten Lebenswelten der mobilen Gesellschaft – zum Beispiel die weite Distanz zwischen Grabstätte und Wohnort der Hinterbliebenen. Die Funktion bleibt erhalten, aber das Medium ändert sich: „Der virtuelle Friedhof als Ersatzraum simuliert so die Funktionen des realen Friedhofs als legitimen Ort der Trauer und des sozialen Austauschs; er löst diese Funktionen allerdings aus den mit ihnen verbundenen sinnlichen Erfahrungen und verlagert sie auf die kommunikative Ebene.“

Gleichwohl bleiben die Unterschiede zwischen den Internet-Gedenkstätten und den traditionellen Orten des Todes grundlegend. Auf den Friedhöfen ist der Tod nach wie vor etwas Reales, denn der Leichnam befindet sich an Ort und Stelle (und sei es in eingeäscherter Form). Bei den Internet-Gedenkstätten hingegen spielt der tote Körper keinerlei Rolle – es bleibt ohne Bedeutung, wo die eigentliche Bestattung geschah. Das Internet ist somit ein „entkörperlichter“ Ort von Trauer und Gedächtnis. Damit führt des die Verflüchtigungstendenzen, die wir schon beim Fernsehen feststellten, konsequent fort. Zugleich ist dieser virtuelle Gedächtnisort stets veränderbar. Im Gegensatz zu den steinernen Grabmälern des bürgerlichen Zeitalters kann er den wechselnden Stadien von Trauer, Verlustbewältigung und Erinnerung immer wieder neu angepasst werden.

Gerade die Internet-Gedenkseiten zeigen die aktuellen Wechselbeziehungen zwischen neuen Medien und Gesellschaft, Kultur und Technik. Indes kann man beim Internet – im Gegensatz zum Fernsehen – einen durchaus reflektierten Umgang mit dem Tod feststellen: „Virtuelle Friedhöfe als Teil eines globalen kommunikativen Netzes setzen die private und die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Tod in eine neue Beziehung zueinander und stellen daher einen soziokulturellen Indikator gegenwärtiger Erinnerungs- und Trauerkultur dar.“ Nach Ansicht des Schweizer Soziologen und Internet-Experten Hans Geser können virtuelle Gedenkstätten als „Frühindikatoren einer neuen Todeskultur“ betrachtet werden. Es gibt Geser zufolge „... aus theoretischer Sicht sehr wohl einige Gründe, um in ihnen die Embryonalform einer durchaus evolutions- und verbreitungsfähigen neuen Todeskultur zu sehen, die den Bedürfnissen einer komplexen, mobilen, pluralisierten, individualisierten und säkularisierten Gesellschaft in vielerlei Weise entspricht.“ Zu den Gründen zählt seiner Ansicht nach das Versagen herkömmlicher, lokal gebundener Formen der Bestattungs- und Trauerkultur, wenn der Verstorbene zum Kreis hochmobiler Personen mit wechselhaften Biographien zählt und der wachsende, gesellschaftlich motivierte Wunsch nach differenzierten und reflexiveren Ausdrucksformen im Zuge der Individualisierung. Im übrigen ermöglicht das virtuelle Totengedenken neue Formen der gesellschaftlichen Kommunikation über den Tod, die die bisherige, bipolare Ausrichtung der Trauerfeiern (Redner/Trauergemeinschaft) auflöst und es gestattet, neue Formen der emotionalen Anteilnahme zu mobilisieren.

Unter einem anderen Aspekt erweisen sich die virtuellen Gedenkseiten allerdings als überraschend traditionsorientiert: Sie sind häufig wie Grabmäler gestaltet. Auch versuchen sie analog zum bürgerlichen Grabmalkult des 19. Jahrhunderts, den Tod zu überwinden, indem sie ihn in der Feier der diesseitigen Erfolge und der dauerhaften Erinnerung verewigen. Und in ihrer offenen, Leben und Tod auch bildlich miteinander verknüpfenden Form erinnern viele Einträge an jene Fotografien, die häufig auf katholischen Grabstätten zu finden sind. Es ist – im Gegensatz zu den sonst üblichen, sprach- und symbolarmen Grabsteinen und erst recht im Gegensatz zur zeichenlosen Bestattung – eine Erinnerung an den Toten als Lebenden. Aber, so gibt der Kunsthistoriker Hans Belting zu bedenken: „Die Schnappschüsse, mit denen wir nur den unaufhaltsamen Fluss der Zeit auf einen Augenblick unterbrechen, sind auswechselbare Spiegelbilder des flüchtigen Ich. Die Selbsterinnerung ist nur eine Vorübung, aber keine Bewältigung des Todes.“

Vorhin war vom Flüchtigen und Vergänglichen die Rede, welches alles Dauerhafte überformt: „Die Digitalisierung des Biologischen lehrt uns auf neue Art,
dass unser Leben flüchtig ist. Der Mensch des 21. Jahrhunderts unterwirft sich auch physisch dieser fortwährenden Mobilität. Ein individuell fixierbarer Standort ist auch nach dem Leben nicht mehr fassbar.

Die Wechselwirkungen zwischen Internet und Tod dokumentieren, dass neben den herrschenden Verflüchtigungstendenzen auch ein reflektierter Umgang mit dem Tod festzustellen ist. Das zeigt sich etwa bei der Bestattungskultur. Sicher: Das „Bestattungsritual im Übergang“ führte Auflösung traditioneller Rituale. Aber es brachte auch neuer Muster hervor, in denen die selbstbestimmten Elemente einen höheren Stellenwert gewinnen: „Im Rahmen der gesetzlichen Bestattungsvorschriften sucht man Patchwork-Rituale zu kreieren, bei denen man auf Bestandteile der konventionellen kirchlichen Bestattung zurückgreift und sich aber gleichzeitig die Möglichkeit für einen eigenen Aktionsraum verschafft.“ Das „Patchwork“ dieser ins Experimentelle hineinspielenden Zeremonien kann aus einem persönlich gestalteten und angelegten Totenkleid bestehen, aus der Bemalung des Sarges, eigener Reden und eigener musikalischer Darbietungen. Dabei werden die einzelnen Mitglieder der „Trauergemeinschaften“ aktiver als bisher, der Anteil individueller, d.h. nicht-ritualisierter Elemente stärker. Das bedingt natürlich auch eine intensivere Auseinandersetzung mit der verstorbenen Person. Andererseits verbleiben wichtige Elemente in den Händen anderer Institutionen (Bestatter, Friedhofsverwaltungen). So sind die „Patchwork-Rituale“ Zeichen eines Übergangs: „Diese Mischformen von delegierter und nicht-delegierter Bestattung sind nicht einfach nur als progressiv-bewegte Bestattungsform zu lesen. Vielmehr sind sie das unübersehbare Symptom eines sinnentleerten und institutionell nicht mehr funktionierenden Christentums. Sie manifestieren den Übergang von dem prekär gewordenen religiösen Bestattungsritual hin zu einem neuen Ritual; ein Übergang, der geprägt ist von Suchbewegungen und Experimenten ... Doch jede einzelne Bestattung mit nicht-delegierten Elementen, so gering und verborgen diese auch sein mögen, ist immer auch Teil dieser gegenwärtig stattfindenden, kollektiv-gesellschaftlichen Arbeit am Bestattungsritual.“

Der Weg zu einer neuen Bestattungskultur wurde insbesondere von einzelnen gesellschaftlichen Gruppen und Initiativen geebnet. Diese bildeten etwa seit den 1980er Jahren Initatioren eines offeneren und reflektierteren Umgangs mit dem Tod. Dies gilt beispielhaft für die AIDS-Selbsthilfebewegung. Die Krankheit AIDS hat Tod und Bestattung im Bewußtsein vieler, nicht zuletzt junger Menschen zu einem aktuellen Thema gemacht und führte zu einer besonderen Solidarität. Stellvertretend für viele andere Beispiele sei hier auf jene Gemeinschaftsgrabstätten für AIDS-Tote verwiesen, wie sie auf städtischen Friedhöfen eingerichtet wurden. Auf dem Hamburg-Ohlsdorfer Friedhof etwa entstand die erste Gemeinschaftsgrabstätte im Jahr 1995, als eine bereits bestehende, aber nicht mehr genutzte Grabanlage umgestaltet wurde. Hier fanden AIDS-Opfer eine ihre letzte Ruhestätte, die sonst als Sozialbestattung möglicherweise an versteckter Stelle hätten beigesetzt werden müssen.

Ähnliches gilt für die Hospizbewegung, die sich für eine humanere Einstellung gegenüber Sterbenden engagiert. Die Hospizbewegung hat sich seit Ende der sechziger Jahre von Großbritannien aus weltweit entfaltet, in Deutschland jedoch erst in den achtziger und vor allem in den neunziger Jahren größeres Gewicht erlangt. Die Hospizbewegung rückt den sterbenden Menschen und seinen Sterbeprozeß in den Mittelpunkt, sie wendet sich gegen die medizintechnische Abschiebung der „Austherapierten“, der unheilbar Kranken. Der Hospizbewegung verwandt und eng mit ihr zusammen arbeitet die Palliativmedizin. Sie versucht, innerhalb der Institution Krankenhaus mithilfe psychosozialer Betreuung und der Gabe schmerzlindernder Mittel den Schwer- und Schwerstkranken eine würdevolle letzte Lebensphase zu ermöglichen.

Ein weiteres Indiz für die zunehmende Reflektiertheit, ja Sensibilität in der Bestattungskultur ist der Umgang mit totgeborenen Föten. Wurde das Thema lange Zeit regelrecht tabuisiert und die Föten als eine Art „Sondermüll“ entsorgt, so sind seit etwa seit 1990 immer mehr Möglichkeiten einer würdevollen Bestattung geschaffen worden – sei es als Einzel- oder als Gemeinschaftsgrab. Bis 1994 mußten in Deutschland nur jene totgeborenen Föten beurkundet werden, die ein Geewicht von mehr als 1000 Gramm hatten, bevor sich Deutschland internationalen Standards anschloß und diese Grenze auf 500 Gramm senkte. Da diese Regelung in die Bestattungsgesetze der einzelnen Bundesländer übernommen werden mußte, bot sich die Gelegenheit, gesetzliche Hürden für die fakultative Bestattung von totgeborenen Föten aus dem Weg zu räumen und teilweise – wie in Rhinland-Pfalz seit 1996 – einen Anspruch auf Bestattungsgenehmigung festzuschreiben. Wurde damit eine freiwillige Bestattung erleichtert, so blieb dennoch die bloße „Entsorgung“ der Föten in den Krankenhäusern rechtlich möglich. Die zunehmende gesellschaftliche Sensibilität und die Chance, auch den Eltern von totgeborenen Föten eine Chance zur Trauerbewältigung über einen besonderen Bestattungsort zu geben, ließen dann an immer mehr Orten spezielle Grab- und Erinnerungsstätten entstehen – so unterschiedlich die rechtliche Regelung in den einzelnen Bundesländern jeweils geblieben ist. Grundidee ist, daß den Eltern auch dann ein Ort zur Trauer gegeben werden soll, wenn es keine Bestattung gibt. Jenseits der Gedenkstätten gehen auch immer mehr Kliniken dazu über, Tot- und Fehlgeburten auf den Friedhöfen regulär zu bestatten. Diese und andere, hier nicht aufgezählte Beispiele zivilbürgerlichen Engagements sind wichtige Bausteine eines veränderten, aufgeklärten und reflektierten Umgangs mit dem Tod und einer „neuen Kultur im Umgang mit Tod und Trauer.

Dabei sind – immer häufiger auch jenseits der Leichenhallen, Krematorien und Friedhöfen - neue Orte und Ausdrucksformen von Bestattung und Trauer entstanden. Gemeinschaftliche Trauer- und Erinnerungsfeiern werden in entsprechend gestalteten Privaträumen oder in den Räumen eines Bestattungsinstituts durchgeführt. Auch In Krankenhäusern und Pflegeheimen werden zunehmend spezielle Aufbahrungs- und Trauerräume eingerichtet. Zuweilen sind es kleine, zunächst unscheinbar wirkende Veränderungen, die breite Wirkung erzeugen (und gerade deshalb von der aktuellen Verunsicherung zeugen). Dies betrifft etwa die Sargherstellung. Der Sarg ist seit Jahrhunderten neben dem Grabdenkmal das entscheidende Prestigesymbol in der Bestattungskultur gewesen. Ende der 1990er Jahre sorgte die in der Schweiz entwickelte so sogenannte „Peace Box“ für Furore: Auch als „Papp-„ oder „Öko-Sarg“ bezeichnet, wurde dieser 12 kg schwere, aus Zellstoff (Karton) bestehende preisgünstige und umweltverträgliche Sarg als Alternative zu den aufwändigen Holzsärgen auch in Deutschland auf dem Markt eingeführt. Ausgekleidet mit einem flüssigkeitsresistenten Innenteil, wird er flach gegliedert und kann rasch zusammengebaut werden. Wenn gewünscht, kann er in einen (gemieteten) Sarg aus wertvollerem Material gestellt werden. Ohnehin wird die Sargfrage wohl demnächst mehr im Mittelpunkt stehen als bisher. Die Aufhebung des Sargzwanges für moslemische Bestattungen – im Stadtstaat Hamburg 1998 gebilligt – könnte auch bei anderen Bestattungen die Frage nach der Notwendigkeit des Sarges auftauchen lassen.

Die neue Kultur im Umgang mit Tod und Trauer schafft sich immer häufiger neue Orte im öffentlichen Raum. Ein besonders augenfälliges Beispiel sind jene „Kreuze am Straßenrand“, die an einen tödlichen Verkehrsunfall erinnern. Die Straße ist ein Raum, der wie nur wenige andere als Symbol der mobilen Gesellschaft gilt. So sind die „Kreuze am Straßrenrand“ ein individueller und kreativer Akt der Trauerarbeit in der mobilen Gesellschaft. Außerdem stellen die Kreuze eine zeitgenössische Form alltäglicher Erinnerungskultur dar, die als sepulkrale „Markierungen des Todes in der Landschaft“ interpretiert und in die Tradition des „gestalteten Raumes“ (Sühnekreuze, Marterln) eingeordnet werden können. Es sind aber nicht nur individuelle Orte der Trauer und Erinnerung, sondern auch öffentliche Mahnung an die Lebenden: „Mit [diesen] Erinnerungsstätten, die sich fast ausnahmslos im regionalen Umfeld der betroffenen Familien befinden, wird eine regionale Öffentlichkeit angesprochen.“

Resümieren wir: Der Umgang mit dem Tod durchläuft gegenwärtig eine grundlegende Zäsur – wir haben Anteil an diesem Prozess. Weder die Flüchtigkeit des medialen Bildes vom Tod noch die  jahrzehntelang herrschende Funktionalität hat verhindern können, dass eingeschliffene Strukturen aufgebrochen und überwunden werden, dass neue Muster von Tod und Trauer entstehen. Diese sind in der Regel individualistischer als die reglementierte Routine, die uns bislang vertraut war. Mag sein, dass in der postindustriellen Mediengesellschaft „die von uns bewohnten Orte … nur vorübergehende Stationen“ sind, wie der Sozialwissenschaftler Zygmunt Bauman schrieb. Gleichwohl erweist sich, wie die erwähnten Beispiel gezeigt haben, das gesellschaftliche Bedürfnis, auf Vergänglichkeit und Tod mit etwas Überdauerndem zu antworten, als höchst lebendig – und es wird auch künftig eine spannende Sache sein zu beobachten, wie sich diese Antworten auf Sterben, Tod und Vergänglichkeit gesellschaftlich entwickeln werden.

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