Startseite | postmortal-Blog | Umfrage zum Friedhofszwang

Besucher
seit Januar 2000

postmortal.de - Die Redaktion

Aktuelle Ebene:

Bestatter restaurieren Unfalltote für den ansehlichen Abschied am offenen Sarg

Bestattungsalternative: Oase der Ewigkeit
in den Schweizer Bergen


Kirchenfunktionäre:
Gezielte Lüge gehört zum Handwerkszeug


Totenwürde unter Wasser
Fotodokumentation


Der Tod in Brual-Siedlung
Totengräber zum Nulltarif


Leichendiebstahl
Ein Menetekel


NL: Gleiches Recht
jetzt für alle Urnen


Ökologisch: Bestattung
im Pappsarg


Vergessene Tote
in unseren Städten


Skandal im RTL-Studio:
Teppich voll Totenasche


Friedwald: Beisetzung
in der Baumwurzel


Der Bestatter Fritz Roth
postmortal.de-Portrait


Die Knochen meiner
Mutter lagen offen ‘rum

Oberste Ebene

postmortal.de
Portal-Seite


Seite 1 - Editorial

Infos & Termine

Der Tod in Düsseldorf

Der Tod in Köln

DIE REDAKTION

Der Tod in der Literatur

Der Tod in der Diskussion

Tod in Recht & Ordnung

Bestattung & Beisetzung

Tod  Kultur - Geschichte

Tod in den Religionen

Tod in Poesie & Lyrik

Tod im Medienspiegel

Kontakte - Gästebuch Foren - Voten

PDF- MP3-Dateien

Impressum

Medieninformationen
Rechercheservice


Urnengalerie

Links: Tod im Internet

Bestatter in Deutschland

Die vergessenen Toten in unseren Großstädten

Von Holger Lach

Hamburg, Juli 1999 - Oft liegen sie wochen-, monate-, oder gar jahrelang unent- deckt in ihren Wohnungen. Niemand bemerkt ihr Fehlen. Die Beschäftigung mit solchen Todesfällen lehrt viel über den Zustand unserer Gesellschaft, meint der Hamburger Rechtsmediziner Michael Tsokos.

Der sportliche junge Mann, der gerade noch ein Obduktionsprotokoll abzeichnet, sieht so gar nicht aus wie die bleichen Pathologen aus den derzeit beliebten Seziersaalkrimis. Dabei hat Michael Tsokos mit seinen 32 Jahren wohl schon mehr menschliches Leid und Elend gesehen, als andere überhaupt ahnen können. Tsokos ist Rechtsmediziner in Hamburg. Über 3.000 klärungsbedürftige Todesfälle hat das dortige Institut für Rechtsmedizin im Jahr zu begutachten. – Neben den 12.500 routinemäßigen Untersuchungen jener Verstorbenen, die in Hamburg Öjendorf im Krematorium der Hansestadt eingeäschert werden. Der Experte für forensische Pathologie zeigt Fotos der wohl eigenwilligsten Toten unserer Großstädte. Bilder von vergessenen Toten.

Oft liegen einsam Verstorbene Monate, ja Jahre in ihren Wohnungen. ”Solche Fälle sind keine Kuriositäten. Sie kommen in Großstädten immer wieder vor.” Interessanterweise treten sie stets gehäuft auf. Warum gehäuft? Der aus Kiel gebürtige junge Doktor lächelt. Wird einmal ein vergessener Toter gefunden, so berichtet natürlich die Zeitung oder sogar das Fernsehen darüber. Im letzten Jahr lag in Hamburg ein Verstorbener fünf Jahre in seiner Wohnung. ”In den zwei Wochen darauf hatten wir hier gleich drei weitere Fälle dieser Art. Mit Liegezeiten zwischen acht Monaten und eineinhalb Jahren.” Erst weil die Medien einen solchen Fall zum Thema gemacht haben, erfährt die Öffentlichkeit von dem Problem. ”Durch die Berichte wird manchem bewußt, daß auch er einen Nachbarn seit längerer Zeit gar nicht mehr gesehen hat. Die Menschen werden aufmerksam auf ihre Umgebung. Auf einmal werden Wohnungstüren geöffnet, die bisher unbeachtet blieben.”

So kann selbst der Sensationsbericht noch sein Gutes haben. Gerne mag der 32jährige Wissenschaftler die Reporterfrage nach seinem spektakulärsten Fall allerdings nicht. Ob es nämlich extreme fünf Jahre gedauert hat oder der Tote schon rascher gefunden wurde, das Ausmaß der menschlichen Tragödie ist davon nicht abhängig. Anfang dieses Jahres hatte der Hamburger Rechtsmediziner wieder einen Fall mit längerer Liegezeit: ”Eine Person, die unbemerkt neun Monate tot in ihrer Wohnung lag. Und niemand ist in der Gesellschaft auf das Fehlen dieses Menschen aufmerksam geworden.” Vermißt wurden nur seine Mietzahlungen. Als die nicht mehr erfolgten, kam es zur Wohnungsöffnung.

Wieviele Menschen sterben unbemerkt in unseren Städten? Tsokos kann keine Zahlen nennen. ”Leider werden diese Informationen nicht überregional gesammelt und einer systematischen Auswertung zugeführt. Solche soziologischen Studien stehen noch aus, und wir könnten nur grobe Schätzungen anstellen.” Alleine in Hamburg gibt es jedenfalls pro Jahr bis zu 100 unbemerkt verstorbene Menschen.

Der Hamburger Rechtsmediziner Dr. Michael Tsokos (32) wird täglich mit menschlichem Leid und Elend konfrontiert.
                               
Foto: Holger Lach

Die vergessenen Toten der Großstadt sind oft schauerlich anzusehen. Fliegen legen ihre Eier auf den Leichnam, dadurch kommt es zu Madenbefall. Ratten oder Mäuse machen sich über den Verstorbenen her. Tsokos, der mit einem Kollegen zu diesem Thema einen Fachaufsatz veröffentlicht hat: ”Auch Haustiere, die in der Wohnung sind, fressen die toten Körper an. Das kann alles sein vom Hamster bis zur Katze oder zum Hund.” Dabei können Eckzahnverletzungen von einem größeren Hund schon einmal Stichwunden vortäuschen. Dann muß der Rechtsmediziner den wahren Sachverhalt klären. Um Bißmuster identifizieren zu können, besitzt der versierte Experte echte präparierte Hundeschädel.

Manche der vergessenen Toten sind auch regelrecht zu Mumien geworden. Mumien, wie man sie aus ägyptischen Pharaonengräbern kennt. Michael Tsokos nickt. Das kann man vergleichen. ”Bei der rituellen Mumifikation in früheren Kulturen hat man durch bestimmte Methoden dem toten Körper schnell das Wasser entzogen.” Im Prinzip geschieht das von alleine genauso mit Wohnungsleichen. ”Es kommt aber zunächst zu Fäulnisveränderungen, dann erst zur Eintrocknung. Rechtsmediziner sprechen deshalb von einer sekundären Mumifikation.”

Tsokos kennt nicht nur die Körper der vergessenen Toten. Er sieht auch ihre letzten Behausungen, wenn die Polizei ihn in die aufgesperrten Wohnungen ruft. Was sind das für Verhältnisse, unter denen so etwas passiert? ”Die Wohnungen, in denen Tote mit langer Leichenliegezeit aufgefunden werden, gleichen sich.” Der nachdenkliche Rechtsmediziner weiß, wovon er redet. Oft genug hat er diese Wohnungen gesehen. In ihnen ist es häufig so chaotisch, daß man kaum einen Fuß vor den anderen setzen kann. ”Es liegt überall Müll herum. Es finden sich Fäkalien an den Wänden. Das ist ein Bild, das man niemandem zumuten möchte...” Der Tod kommt für die Bewohner solcher trostlosen Quartiere meist überraschend. Viele der vergessenen Toten sterben an plötzlichen Komplikationen eines Magen oder Darmgeschwüres. Sie verbluten hilflos. ”Dabei müßte niemand unter ärztlicher Behandlung daran sterben,” bekräftigt der Mediziner. Für den Schritt in die Arztpraxis fehlt Vereinsamten jedoch der Antrieb. Oft haben alleinstehende Ältere sich einfach aufgegeben. Viele Alleinlebende macht der Alkoholismus antriebslos. Gelegentlich schmerzen Magengeschwüre aber auch gar nicht. Den Betroffenen entgeht, daß sie ernstlich krank sind. Und andere interessieren sich nicht für ihr Schicksal...

Das Phänomen der vergessenen Toten ist nicht neu. Frühere Generationen von Rechtsmediziner haben es auch schon beschrieben – etwa im Berlin der Zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts. Vergessene Tote sind ein Phänomen anonymer Wohnverhältnisse in Großstädten – und zwar in den Zeiten zunehmender sozialer Verwahrlosung. So wird die Untersuchung von Todesfällen zum Spiegel der Lebensumstände einer Gesellschaft. Aber wer geht schon in die Rechtsmedizin, um etwas über gesellschaftliche Themen zu erfahren? Michael Tsokos: ”Dabei lernen wir doch in unserer Arbeit unmittelbar die betroffenen Menschen, ihr Schicksal und ihr Umfeld kennen.” Und zwar durch die Beschäftigung mit ihrem Tod.

#Pfeiloben

Link zur Umfrage

  Beteiligen Sie sich bitte auch an der postmortal
Umfrage
zum Friedhofszwang für Totenaschen in Deutschland
Die bisherigen Ergebnisse werden Sie überraschen.

Link zur Umfrage