Am 12. März 1998, um 9.32 Uhr, beginnen im westfälischen Lüdinghausen Ermittlungen in einem Todesfall. Sie werden ins Nichts führen, was gar nicht selten geschieht in dieser Republik. Zu klären ist die Frage: Wie starb Nithrsan Emmanuel?Ihr verkohlter Babykörper wird an jenem Morgen aus einem verbrannten Kinderreisebett geborgen. 15 Monate alt ist sie geworden. Mit den Eltern und zwei
Geschwistern lebte sie in einer Asylunterkunft. Ein Arzt bestätigt den Flammentod des Kindes. Die Geschwister werden mit Rauchvergiftung ins Krankenhaus geflogen.
Der Brandsachverständige diagnostiziert Brandstiftung. Das Feuer sei am Kinderbett gelegt worden. Die Kriminalpolizei schließt aus der Situation (drei Kinder eingesperrt in einem Raum), daß der zweieinhalbjährige Bruder der Toten wohl gezündelt haben müsse. Das leuchtet der Staatsanwaltschaft Münster ein: Sie gibt die kleine
Leiche zwei Tage später zur Bestattung frei. Eine Woche nach dem Tod, am 19. März 1998 um 14.35 Uhr, werden die sterblichen Überreste der Nithrsan Emmanuel eingeäschert - auf Wunsch der Eltern.
Der Fall Emmanuel wäre damit abgeschlossen gewesen, wären nicht ein paar Milliliter Blut der kleinen Nithrsan auf der Welt zurückgeblieben. Auf Drängen des mißtrauischen Brandsachverständigen war der Leiche noch am Todestag eine Blutprobe entnommen worden. Zwei Tage nach der Einäscherung trifft das
Ergebnis der Blutuntersuchung bei der Staatsanwaltschaft Münster ein: Im Blut ist kein Kohlenmonoxid. Das Kind muß bereits vor Ausbruch des Feuers tot gewesen sein.
Die Staatsanwälte hielten eine Obduktion für überflüssig
Führt ein Arzt die Leichenschau bei einem Verbrannten durch, kann er wegen der Verletzungen durch Hitze und Rauch nur selten genau feststellen, ob der Mensch durch Feuer oder schon zuvor durch ein Gewaltverbrechen umgekommen ist. Eine Brandstiftung, die
kaschieren soll, daß jemand ums Leben gebracht wurde, gehört zu den Klassikern der Kriminalistik. Damit Tötungen nicht unerkannt bleiben, werden die Leichen geöffnet.
Den Ermittlern im Fall Emmanuel war davon wohl nichts bekannt. Die Staatsanwaltschaft hielt eine Obduktion für überflüssig - obwohl sie in solchen Fällen üblich ist. Der Brandsachverständige hatte mehrfach darauf gedrängt. Auch hörten die Ermittler erst nach der Kremation davon, daß die Familie Emmanuel dem Jugendamt schon
längere Zeit wegen "emotionaler Kälte" gegenüber den Kindern aufgefallen war.
Die Mutter des toten Kindes sagte bei der Polizei aus, ihre Tochter habe gelebt, als sie den Raum verlassen und die Tür verschlossen habe. Nachbarn hatten Zweifel. Sie wollen Frau Emmanuel darauf hingewiesen haben, daß es brenne im Zimmer ihrer Kinder und daß Türen und Fenster verriegelt seien. Als die Frau nicht reagierte, hätten sie selbst die Fenster geöffnet.
Das alles sind Indizien, doch kein
Beweis. Das einzige Beweismittel, das Corpus delicti,ist mit staatlichem Stempel zu Asche geworden. Fragt man die Staatsanwälte in Münster heute, woran das Flüchtlingskind gestorben sei, zucken sie bedauernd die Achseln: "Die Todesursache ist unklar." Der Fall wird in keiner Tötungsstatistik auftauchen. Wie so viele andere auch.
1996 starben in Deutschland 882 843 Menschen, 1249 davon wurden getötet - aus Berechnung, aus Affekt, auf Verlangen. Die Aufklärungsrate liegt bei 92
Prozent; so steht es in den offiziellen Zahlenkolonnen des Bundeskriminalamtes, Wiesbaden.
Schätzungsweise jeder zweite Mord kommt nie ans Licht
Doch es gibt noch andere Listen. Sie werden in den Leichenkellern der rechtsmedizinischen Institute geführt. Zufällig, bei wissenschaftlichen Reihenuntersuchungen etwa, durch überraschende Tätergeständnisse oder privatfinanzierte Obduktionen, geraten dort nämlich immer wieder Verstorbene auf den Seziertisch, die laut Totenschein ein
natürliches Ende genommen haben. Bei manchem fördert erst die Autopsie das gewaltsame Sterben zutage. Wie oft, weist nun erstmals eine Studie der Gesellschaft für Rechtsmedizin nach: Unter 13 000 sezierten Toten waren 92, denen der Totenschein ein natürliches Ableben bescheinigte und die doch eines unnatürlichen Todes gestorben waren. Die meisten waren Opfer unerkannter Unfälle oder ärztlicher Kunstfehler geworden, zehn Personen allerdings waren offensichtlich getötet worden, ohne daß
jemand es bemerkt hätte. Weitere 35 Personen waren mit unklarerTodesursache eingeliefert und ebenfalls von fremder Hand beseitigt worden.
Beunruhigend klingt die Studie aus 23 von insgesamt 38 rechtsmedizinischen Instituten erst, wo sie sich der Dunkelziffer bei Mord und Totschlag und den Zuständen bei der Leichenschauam Fundort zuwendet. Schon immer waren die Rechtsmediziner - im Gegensatz zu den Staatsanwälten - davon überzeugt, daß ungezählte Tötungsdelikte im geheimen geschehen und
Ermittlungsstellen nie davon erfahren. Die Verfasser der Studie versuchen nun mit Hilfe der neuen Daten zum ersten Mal eine "vorsichtige und konservative" Hochrechnung, die zu dem Schluß kommt, "daß jährlich in der Bundesrepublik mit insgesamt 11 000 bis 22 000 nicht-natürlichen Todesfällen zu rechnen ist, die bei der Leichenschau als ,natürlich' klassifiziert werden. Darunter 1200 bis 2400 Tötungsdelikte." Das bedeutet: Mindestens jede zweite Tötung bleibt in Deutschland
unerkannt.
"Jemand hat gute Chancen davonzukommen, wenn er nicht auf brutale Weise, also durch Stich, Schlag oder Schuß tötet", sagt Wolfgang Eisenmenger, Chef des Instituts für Rechtsmedizin in München, in liebenswürdigem Ton. Der Professor gehört zu den Kapazitäten auf seinem Gebiet. Im Tiefgeschoß seines Instituts werden jährlich an die 2000 Leichen geöffnet. Eisenmenger selbst hat sein Büro so stark überheizt, als wolle er sich von der Visite bei seinen unterkühlten Patienten
erholen. "Ich bin berufsbedingt von der Bosheit der Menschen umgeben", sagt er, "deshalb halte ich es für möglich, daß es eine beträchtliche Zahl unentdeckter Täter gibt."
Für diese Annahme sprechen noch andere Gründe als die Natur des Menschen. In Deutschland kommt nur derjenige auf den Seziertisch der Gerichtsmedizin, dessen Todesumstände ohnehin obskur und alarmierend genug waren, um die Staatsanwaltschaft in Bewegung zu setzen. "Wer in Deutschland einen
perfekten Mord begehen will, braucht sich nicht allzu viele Gedanken zu machen", sagt Alfred Du Chesne, ein Rechtsmediziner am Institut Münster. Auch er ein entzückender Herr, der zwischen Schädeln mit sauberem Durchschuß Platz genommen hat. "Die Chance, daß das Ganze gar nicht herauskommt, ist auch bei plumpem Verhalten sehr groß. Der Garant ist die Schlamperei bei der Leichenschau."
Vergrößert wird das Dunkelfeld obendrein, weil in Deutschland sehr wenige Sektionen
vorgenommen werden. Nur zwei Prozent der Leichen kommen in die Gerichtsmedizin. Weitere sechs Prozent werden von Pathologen in den Kliniken untersucht, die aber über wenig kriminalistische Kompetenz verfügen und vor allem auf Krankheitsbefunde fixiert sind. In Schweden dagegen ist die Sektionsrate mehr als doppelt so hoch: 19 Prozent. Knapp 40 Prozent davon erledigen Gerichtsmediziner. In Schweden ist auch die Tötungsrate erheblich höher: Während in Deutschland 1996 auf 10 000 Verstorbene 14
Getötete kamen, waren es in Schweden 21. Dort werden etwa zehn Prozent der Mordfälle erst während der Autopsie entdeckt. Finnland, wo die Sektionsrate noch höher liegt, übertrifft das skandinavische Nachbarland auch in der Zahl der nachgewiesenen Tötungen: Auf 10 000 Verstorbene kamen dort 38 Menschen, die gewaltsam und von fremder Hand ihr Leben lassen mußten. Sind die Vergleichszahlen aus Skandinavien ein Indiz für die Ausmaße des Dunkelfelds? Besteht also ein Zusammenhang zwischen der Zahl
der statistisch erfaßten Tötungen und der Häufigkeit der Sektionen? "Ja", sagt Professor Eisenmenger, "gemerkt haben wir es an den zu Tode mißhandelten Kindern in München. Von 1911 bis 1975 waren es an diesem Institut nur sechs Fälle. Dann fingen wir an, darauf zu achten und Kinderleichen zu sezieren. Von 1990 bis 1995 wiesen wir etwa 20 Fälle nach."
Der Doktor bescheinigte "plötzlichen Herztod", später gestand der Mörder
Das gilt nicht nur für
kleine Kinder. Kunigunde Thoss war 84 Jahre, als sie ins Dunkelfeld der unerkannten Tötungen geriet. Am 11. Januar 1992 wurde sie von ihrem ehemaligen Mieter Horst David in Regensburg erwürgt. Ihr Mörder drückte der daliegenden Toten zum Abschied eine Zeitung in die Hand. Und entkam. Am Tag danach, es war ein Sonntag, betrat Helmut Thoss, der Sohn, besorgt die Wohnung der Mutter. Sie lag in der Küche, als habe sie "bei der Lektüre der Schlag getroffen". Der Notarzt bescheinigte:
plötzlicher Herztod.
"Ich ließ mir das durch den Kopf gehen und rief anderntags bei der Polizei an", erinnert sich Helmut Thoss. "Ich sagte: Meine Mutter war kerngesund. Überprüfen Sie den Horst David, der wurde am Todestag meiner Mutter bei ihr gesehen. Der Mann hat zwei Gesichter." Der Staatsanwalt ließ die Leiche beschlagnahmen. Am Tag danach erhielt Thoss einen Anruf der Polizei: Seine Mutter sei zweifelsfrei eines natürlichen Todes gestorben. Er könne die Leiche auf
eigene Rechnung obduzieren lassen, das koste allerdings 1500 Mark. Thoss machte einen Rückzieher: "Ich wollte sie nicht auseinandernehmen lassen", sagt er. "Sie war immerhin meine Mutter, die legt man doch nicht ohne Not auf den Seziertisch." Dann begrub er sie mit ruhigem Herzen.
Im Juni 1994 gestand der vom Sohn Verdächtigte Horst David den Mord an Kunigunde Thoss. Und zwei weitere Morde, die niemandem aufgefallen waren. Die Opfer waren ebenfalls alte Damen gewesen,
und David hatte ihre Leichen so raffiniert drapiert, daß kein Arzt und kein Polizist gewaltsamen Tod geargwöhnt hatten. Nach der Exhumierung von Kunigunde Thoss stellte die Rechtsmedizin fest, daß ihr Zungenbein und Kehlkopf gebrochen worden waren - Zeichen für den Tod durch Erwürgen. 1995 wurde der "Würger von Regensburg" für insgesamt sieben Frauenmorde zu lebenslanger Haft verurteilt, von denen drei ohne sein freiwilliges Geständnis nie ans Licht gekommen wären.
Gerade wenn es
- wie in den allermeisten Fällen - keine Sektion gibt, bleibt alle Verantwortung an einer einzelnen Person hängen: dem leichenbeschauenden Arzt. Er ist der Filter, der die natürlichen Toten von den anderen Toten trennt. Bei der Leichenschau soll festgestellt werden, ob der Betroffene durch Alter und Krankheit starb oder durch Unfall, Selbstmord, Mord. Hier entscheidet sich, ob die Kriminalisten später ermitteln werden oder nicht. Wenn Zweifel bleiben und keine eindeutige Todesursache
feststellbar ist, muß die Polizei gerufen und die Staatsanwaltschaft informiert werden.
Die Leichenschau wird in Deutschland von jedem Arzt vorgenommen, egal, wie gut er mit den Phänomenen des Todes vertraut ist. Im allgemeinen ist es der Hausarzt oder der Notarzt, der das Ende diagnostiziert und die Todesursache zu erraten sucht. Doch auch Augenärzte, Gynäkologen, Laborärzte und Psychiater - Mediziner, die oft seit dem Studium keine Leiche mehr gesehen haben - beugen sich über die
Hingeschiedenen. Sie sollen dann darüber befinden, ob es Anhaltspunkte für einen unnatürlichen Tod gibt. "Hellseherische Fähigkeiten", schreibt der Rechtsmediziner Wolfgang Spann in seinem Buch Kalte Chirurgie, verlange diese Aufgabe. Aber oft fehlt es bei den Leichenbeschauern schon am Grundsätzlichen.
Ein Arzt, der eine Leiche im Trauerhaus nackt auszieht, riskiert seinen guten Ruf
Ein Leichenfundort sieht fast immer harmlos aus. Verdacht keimt erst bei
sorgfältiger Inspektion des Körpers und seiner Umgebung. Sachkundige Antworten verlangen Training, erhebliche Skepsis und kriminalistische Phantasie, und deshalb sollte eine Leichenschau auch sehr sorgfältig durchgeführt werden; so wollen es die Bestattungsgesetze der Länder. Zur Sorgfaltspflicht zählt es, Kontakt zum behandelnden Arzt des Toten aufzunehmen, für Ruhe und gute Beleuchtung zu sorgen und eine penible Untersuchung der nackten Leiche, insbesondere ihrer Körperöffnungen vorzunehmen.
Die Realität sieht anders aus. Die Ärzte kennen ihre Verstorbenen oft zu gut oder zu schlecht, um mißtrauisch zu werden. Sie schauen kurz ins gebrochene Auge, konstatieren den Exitus, fragen vielleicht noch die Verwandten und stellen den Leichenschein aus. Nach Untersuchungen in Münster wird der Tote nur in etwa 20 Prozent der Fälle entkleidet, nur jeder dritte Arzt entfernt die Kinnbinde, die Strangulationsmerkmale so trefflich verdecken kann. Es kostet den Arzt enorme Überwindung und oft
auch die Sympathie der Angehörigen, wenn er in einem Trauerhaus die Leiche nackt auszieht und dann auch noch die Polizei ruft. So etwas kann den Ruf eines Arztes, gerade auf dem Lande, vernichten.
Es kommt daher vor, daß ein Hausarzt den Verwandten den Totenschein mitgibt, ohne die Leiche gesehen zu haben. Notärzte tragen bei Unbekannten ins letzte Dokument bisweilen groben Unfug ein, den Rechtsmediziner oder Amtsärzte später lesen müssen. In der Regel aber wird Herzschlag oder Herzversagen
angenommen - was ein langjähriger Amtsarzt als "massenhafte Verlegenheitsdiagnose ratloser Mediziner" bezeichnet, die sich verheerend auf die deutsche Statistik der Todesursachen auswirke. Und so wundert es keinen Rechtsmediziner, wenn einer Toten mit elf Messerstichen im Leib, die vom aufgeregten Bestatter ins Institut gebracht wird, im Totenschein jäher Herztod bescheinigt ist - so geschehen in Hannover und mit vielen ähnlichen Fällen in Armin Mätzlers Standardwerk
Todesermittlungen verewigt. Strafe müssen fahrlässige Leichenbeschauer nicht fürchten. Einer Meldepflicht für Mordtaten unterliegen sie nicht.
"Bei unappetitlichen Exemplaren wird die Leichenschau mit einem Blick von der Türe aus erledigt", sagt Volkmar Schneider, Professor für Rechtsmedizin in Berlin. Sein Institut ist für die zweite Leichenschau zuständig, die vor jeder Einäscherung üblich ist. Etwa einmal pro Woche halten seine Mitarbeiter wegen Unklarheiten einen Leichnam
zurück, dem ein Arzt bereits den natürlichen Tod bescheinigt hatte. "Uns rutscht auch mal ein spurenarmer Mordfall durch", sagt Schneider, "zurück bleiben nur vier Pfund Knochenasche."
Es gibt Tötungsarten, die durch äußerliche Untersuchung kaum oder gar nicht zu erkennen sind. Dazu zählt die Vergiftung. Viele Stoffe sind sogar bei einer toxikologischen Analyse nicht auszumachen. Findet sich dann doch eine der 4000 bis 6000 gesuchten Substanzen, muß erst noch bewiesen
sein, daß das Gift unfreiwillig in den Körper gelangte, was bei einer Überdosis Medikamente oder Rauschgift oft unmöglich ist. "Wir haben in den letzten 35 Jahren in Hamburg keinen Giftmord festgestellt", sagt Klaus Püschel, Chef der örtlichen Rechtsmedizin, "Sie glauben doch selber nicht, daß hier in drei Jahrzehnten keiner vergiftet worden ist!" Der Erstickungstod des Säuglings, der tödliche Treppensturz der Greisin, der finale Badewannenunfall des Herrn in den besten
Jahren - das sind typische "spurenarme" Tötungsdelikte, die der Stand der Rechtsmediziner haßt und fürchtet. Hier stößt auch der Experte oft an die Grenze dessen, was sich beweisen läßt.
Ein Leichenkeller wirkt auf den ersten Blick wie eine Großküche: Kacheln, Neonlicht, deckenhohe Metallschränke. In Kühlfächern liegen die Toten übereinandergestapelt. Entseelt wie Wachspuppen. Manche Gestalten sind dunkel und eingeschrumpft. Sie lagen wochenlang unter freiem Himmel. Bei anderen
ist der ganze Körper von Maden zerfressen. Wie will einer da noch die Todesursache feststellen? Den Einstich einer tödlichen Injektion zum Beispiel?
In einem hochzivilisierten Staat wie dem deutschen, der jede Lebensregung reglementiert, der jeden Quadratmeter irgendeinem Nutzungsplan zuführt und der von gläsernen Bürgern bevölkert wird, ist es offenbar möglich, jemanden in aller Stille ins Jenseits zu befördern. Warum auch nicht? Hier sind ja auch laut Polizeistatistik 7500
Staatsangehörige wie vom Erdboden verschluckt. Hier kompostieren ja auch Tote fünf Jahre in ihrer Wohnung, ohne daß es einen kümmerte. Hier werden durch puren Zufall Skelette entdeckt, die in Plastiksäcken auf Dachböden vermodern. Hier bringt das Klinikpersonal serienweise Patienten mit Kaliumchlorid- oder Luftinjektionen um, ohne daß es jemandem weiter auffiele. Unterhalb der zivilisierten Selbstverständlichkeit finden Dinge statt, die die Vorstellungskraft des Bürgers überfordern. Und doch
sind sie allesamt geschehen: 1998 in Hamburg. 1975 in Hamburg. 1986 in Wuppertal. 1990 in Gütersloh. Und sie geschehen weiterhin im stillen. Betrachtet man die Welt aus der Perspektive der forensischen Mediziner, ist das Ungeheuerliche alltäglich und allgegenwärtig. Sie erleben, wie oft eine Untat nur durch die beiläufige Aufmerksamkeit einer einzigen Person aufgedeckt wird. Sie fragen sich: Und wieviel öfter nicht?
Wenn die staatliche Ermittlungsmaschinerie erst einmal angeworfen ist,
arbeitet sie präzise, mit hohem Aufwand und großem Erfolg. Aber wann kommt es schon dazu? Nimmt man die Zustände bei der Leichenschau zum Maßstab, herrschen in Deutschland mittelalterliche Verhältnisse. Schon 1983 stellten die Generalstaatsanwälte der Bundesländer und der Generalbundesanwalt fest, daß "die Leichenschau die sichere Feststellung nicht-natürlicher Todesfälle nicht gewährleistet" und daß "hierdurch die Erkennung und Verfolgung von Straftaten gegen das Leben und
damit ein gravierendes rechtsstaatliches Interesse gefährdet ist". Sie plädieren daher für neue Gesetze, die nur speziell ausgebildeten Ärzten die Leichenschau lege artis erlauben. Diese amtlichen Leichenbeschauer - es gibt sie in anderen Ländern - wären nicht nur Experten, was die Zeichen und Spuren am Verstorbenen angeht, sie wären in ihrem Urteil auch frei von Zwängen.
Getan hat sich seither nichts. "Tote haben keine Lobby", sagt Bernd Brinkmann, Direktor des Instituts für
Rechtsmedizin in Münster. "Die machen bestimmt keinen Sternmarsch nach Bonn. Wenn alle unerkannt Gemordeten sich zum Justiz- und Gesundheitsministerium aufmachten - die Gesetze wären binnen weniger Tage reformiert."
Mund und Nase der Toten waren blutig, doch der Leichnam wurde rasch beerdigt
Vielleicht wäre Herrn Dr. Schloßmachers Patientin auch dabei auf diesem Sternmarsch. Der Tod dieser älteren Frau ist es, der dem Arzt keine Ruhe läßt. Schloßmacher,
Internist mit einer großen Praxis auf dem Lande in Nordrhein-Westfalen, kannte die Patientin seit vielen Jahren. "Es gab keine aktuellen Erkrankungen, die einen plötzlichen Tod hätten erwarten lassen", sagt er. Völlig überraschend wurde er im November 1997 von der Kriminalpolizei angerufen und gebeten, die Leichenschau an der um die Mittagszeit tot Aufgefundenen vorzunehmen. Als Schloßmacher am Abend in die Leichenhalle kam, lag die 67jährige bereits starr im Sarg. Die Beleuchtung
war so trüb, daß eine Leichenschau nicht möglich war, Schloßmacher erkannte gerade noch Blut in Mund und Nase der Toten. Beunruhigt kreuzte der Arzt im Leichenschein "ungeklärte Todesursache" an und empfahl dringend eine Obduktion. Einige Tage später erfuhr Schloßmacher, daß der Leichnam unverzüglich von der Staatsanwaltschaft freigegeben und bereits ins Grab gesenkt worden war. Eine Sektion hatte nicht stattgefunden, obwohl auch eine Freundin der Verstorbenen zur Polizei gegangen
war und einen Mordverdacht geäußert hatte.
"So eine ungewöhnliche Sache habe ich noch nie erlebt", sagt Schloßmacher, bestürzt über die Gleichgültigkeit von Staatsanwaltschaft und Polizei. "Ermittler, die sich so verhalten, haben offensichtlich kein Interesse an der Aufdeckung rätselhafter Todesumstände." Zweifel an der Ernsthaftigkeit von Strafverfolgungsbehörden waren dem eingesessenen Landarzt bereits früher gekommen. Schon mehrfach hatte ihn bei einer Leichenschau
die Ahnung beschlichen, daß der Tote "geschickt erledigt" worden sein mußte. Schon mehrfach war sein Verdacht folgenlos geblieben. Keine Obduktion, keine Nachforschung. "Die Sache berührt mich auch als Staatsbürger", sagt Schloßmacher. Seit etwa zehn Jahren diagnostiziere er eine fortschreitende Ermattung des Verfolgungssystems, eine "chronische Übermüdung des Staates und seiner Diener".
Das ganze System ist marode, das wissen besonders die Rechtsmediziner.
Immer wieder beklagen sich Haus- und Notärzte bei ihnen über die Polizei. Unverhohlene Ignoranz am Ereignisort ist noch der mildeste Vorwurf. Viele Doktoren fühlen sich von den Beamten, die sie eigentlich gerufen haben, um Klarheit in die "Leichensache" zu bringen, unter massiven Druck gesetzt: Sie sollen wider besseres Wissen und gegen ihr Gewissen den natürlichen Tod feststellen (siehe Der muß noch viel lernen,
Seite 10). Schon 1988 baten die Gesundheitsminister der Länder ihre Kollegen für Justiz und Inneres, darauf hinzuwirken, daß die Beamten der Polizei auf die ärztliche Leichenschau keinen Einfluß nähmen. Der Rechtsmediziner Brinkmann aus Münster hat im Sommer 1998 in einer kleinen Pilotumfrage 100 westfälischen Ärzten und Notärzten einen anonymen Fragebogen zugeschickt. 37 von ihnen schickten den Bogen ausgefüllt zurück. Die Hälfte gab an, bei der Leichenschau schon von Beamten bedrängt worden zu sein, "natürlicher Tod" anzukreuzen, um der Polizei Ermittlungsaufwand zu ersparen. Manch einer gestand, weich geworden zu sein und so vielleicht die Aufklärung eines Mordfalles unmöglich gemacht zu haben.
Widersetzen sich die Ärzte dieser Aufforderung zur Urkundenfälschung, schlägt ihnen manchmal blanke Aggression entgegen, die bis zur Strafandrohung eskalieren kann. "Wie Furien gehen sie in die Luft", sagt ein norddeutscher Notarzt, "weil sie dann Arbeit kriegen."
Gerade am Wochenende ist die Polizei in manchen ländlichen Gebieten stark ausgedünnt. Einige Kripo-Beamte haben einen so weitflächigen Einsatzbereich abzudecken, daß sie bei einem Leichenfund allein zwei
Stunden Anfahrtszeit benötigen. Am Wochenende, sagt ein anderer Notarzt, seien die Kriminaler deshalb besonders "viskös", so lautet der medizinische Fachausdruck für zähflüssig. Der Notarzt kommt zum beklemmenden Schluß: "Zwischen Freitagabend und Sonntagabend darf gemordet werden, was das Zeug hält." Ein Scherz - allerdings mit einem wahren Kern.
Das wissen auch die Mitarbeiter in den Gesundheitsämtern, wo jeder Totenschein für die Statistik ausgewertet wird. Dort
sitzen Ärzte, die kein gutes Gefühl haben beim Gedanken an den einen oder anderen Exitus. Auch sie reden nur zögerlich und inkognito darüber: "Das ist ein heißes Eisen." Da kommen Todesbescheinigungen auf den Tisch, auf denen steht, jemand habe sich in selbstmörderischer Absicht in den Hinterkopf
geschossen. "Haben Sie so was schon mal gehört?" fragt ein Arzt einer Gesundheitsbehörde. "Ich gebe die Sache sofort an die Polizei - und nichts passiert! Die Gleichgültigkeit wird zelebriert in Deutschland, und die ganze Verwaltung macht mit." Auch seine Kollegen in anderen Ämtern haben sinistre Fälle zusammengestellt, bei denen junge oder gesunde Menschen urplötzlich tot dalagen und kein Arzt, kein Polizist es für nötig befunden hatte, der Sache nachzugehen. Eine ähnliche Fallsammlung aus dem Raum Stuttgart durch den damaligen Landespolizeipräsidenten und den Chef der Rechtsmedizin in Tübingen hatte 1983 die Generalstaatsanwälte auf den Plan gerufen.
Die Problemlage ist dieselbe geblieben - sicherlich mit starken regionalen Schwankungen, abhängig von der Arbeitsmoral der jeweiligen Staatsanwaltschaft und vom Pflichtbewußtsein der einzelnen Kripo-Beamten -, und jeder Rechtsmediziner kennt sie. "Die Polizei ist immer mächtiger geworden in den vergangenen Jahren", sagt einer von ihnen, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, "sie kann sich immer dreistere Rechtsverletzungen erlauben."
"Jeder kleine Unterschichtskriminelle kann die Polizei herumheben"
© Die Zeit 02/1999