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Nr. 20/2000

Sparen mit tödlichen Folgen

Überall in Deutschland werden rechtsmedizinische Institute geschlossen.
Eine verheerende Entscheidung

Von Sabine Rückert

An den Opfern glaubt die Regierung am ehesten sparen zu können..
Tote wehren sich schließlich nicht

Leider. Leider. Frau Behler ist nicht zu sprechen. Der Wahlkampf, Sie verstehen. Schade, doch kein Wunder, dass die nordrhein-westfälische Ministerin für Schule und Weiterbildung, Wissen- schaft und Forschung keine Zeit hat. Das Thema, zu dem sie nicht zu sprechen ist, macht sich nicht gut vor der Landtagswahl.

Ihr Ministerium plant nämlich, gleich vier der sechs Universitätsinstitute für Rechtsmedizin in Nord- rhein-Westfalen abzuschaffen - in Aachen, Essen, Bonn und Düsseldorf. Das Institut in Aachen wird zum 1. August 2000 "ersatzlos abgebaut", heißt es in einem internen Papier. Die andern sollen kurz- bis mittelfristig folgen. Allein die Institute in Münster und Köln bleiben erhalten. Die Ministerin folgt damit einem bundesweiten Trend. Die Rechtsmedizin ist in dieser Republik in die Defensive geraten. Länder wie Hessen oder Schleswig-Holstein haben schon Tatsachen geschaffen: Die Lehrstühle in Marburg und Lübeck wurden gerade gekippt. Eine Gefahr für existenzielle Güter bahnt sich an. In aller Stille.

Der Bürger sollte wissen, was die Politik nicht begreift: Der Verlust der Rechtsmedizin wird nicht nur teuer, sondern auch so manchen Menschen das Leben kosten. Denn die Rechtsmedizin stellt ihr Wissen und Können in den Dienst von Polizei und Justiz. Sie untersucht die Opfer von "Straftaten gegen das Leben und gegen körperliche Unversehrtheit", diagnostiziert und dokumentiert die Spuren von Gewalt. Ohne die Sicherheit eines rechtsmedizinischen Gutachtens ist die Verurteilung eines Mörders, Gewalttäters, Misshandlers oder Vergewaltigers so gut wie unmöglich. Kaum eine Ge- richtsverhandlung in einer Strafsache gegen Leib und Leben, in der der Rechtsmediziner nicht seinen Auftritt hätte. Seine Disziplin ist rein opferorientiert.

Nun will das Bildungsministerium im hoch verschuldeten Nordrhein-Westfalen aber sparen, zwei bis drei Milliarden. Und da jede Gruppe sofort auf die Barrikaden geht, wenn sie merkt, dass ihre Interessen gefährdet sein könnten, drängt sich der Verdacht auf, das Ministerium kürze die Mittel nun vorzugsweise bei jenen, die naturgemäß keinen allzu heftigen Widerstand erwarten lassen - den Opfern und den Toten.

Die Überlegungen im Ministerium sind folgende: Weil Schulen ein Massenpolitikum sind, spart man an den Universitäten. Weil es zu viele Mediziner gibt, spart man an den medizinischen Fakultäten. Weil man nicht einfach ganze Fakultäten schließen kann (das würde auf der Ebene der Lokalpolitik scheitern), geht man mit dem Läusekamm durch die medizinischen Disziplinen und prüft, auf welche man am schmerzlosesten verzichten kann: natürlich nicht auf Anatomie. Auch nicht auf zentrale Fächer wie Chirurgie, Innere Medizin, Gynäkologie. Also lässt man Nebenfächer verschwinden: die Augenheilkunde zum Beispiel. Die Zahnmedizin. Oder eben die Rechtsmedizin, die bundesweit nur etwa 400 Wissenschaftler zählt.

Doch wer rechtsmedizinische Institute schließt, sollte wissen, was er tut.

Zuerst wird sich die forensische Ausbildung der Medizinstudenten rapide verschlechtern: Das Fach Rechtsmedizin vermittelt Kenntnisse von der Leichenschau, vom Erscheinungsbild der nichtnatürlichen Todesursachen und der überlebten Traumatisierungen. Der werdende Arzt muss lernen, bei einer Verletzung - etwa am Körper eines Kindes - die Unterscheidung von tätlicher Gewalt und Unfall treffen zu können. Ebenso muss er bei einer Leiche erste Verdachtsmerkmale auf Tötung erkennen. Jeder Arzt in Deutschland ist verpflichtet, Totenscheine auszustellen. Er allein entscheidet, ob die Polizei gerufen oder der Leichnam unverzüglich bestattet wird. Er ist die Schlüsselfigur bei der Todesermittlung.

Daher hören die Studenten im Prüfungsfach forensische Medizin nicht nur eine Vorlesung, sondern machen auch einen praktischen Kurs. Wird ein Lehrstuhl geschlossen, muss das Ordinariat in der nächstgelegenen Universität die Lehrtätigkeit mit übernehmen. Ein Kurs ist dann aber nicht mehr möglich, denn wo kein Institut ist, können auch keine Leichenschauen oder Sektionen vorgeführt werden. Also werden die Studenten stattdessen in einem Buch lesen, wie die Leichenschau durch- zuführen ist, und keine Toten zu Gesicht bekommen. Sie werden die Sprache der Toten nicht lernen. Das wird dazu führen, dass sie später allenthalben den "natürlichen" Tod feststellen werden, schlicht deswegen, weil sie von den Spuren gewaltsamen Ablebens, die bei Vergiftung oder Erstickung oft sehr diskret sind, keine Ahnung haben.

Zweitens: Je weiter ein Leichenfundort vom nächsten rechtsmedizinischen Institut entfernt ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass das tote Opfer zu einem Rechtsmediziner transportiert wird. Das ist heute schon so - aus Kostengründen. Da sich die Entfernungen nach der Schließung
weiterer Institute stark vergrößern, wird man nur noch jene Toten zur Sektion transportieren, denen auch der Laie schon ansieht, dass sie ermordet wurden. Das Dunkelfeld der Tötungsdelikte wird rund ums geschlossene Institut wachsen - zur Freude der Mörder. Die Tötungsrate in den offiziellen Statistiken dagegen sinkt - zur Zufriedenheit der Polizei, zur Beruhigung der Politik. Und die Diag- nosefehler werden zunehmen: Je später eine Leiche untersucht wird, desto verschwommener sind die Aussagen, die man über sie machen kann. Eine Leiche, die längere Zeit im Zinksarg über Land- straßen gerüttelt wurde, ist anschließend nur mühsam zu beurteilen. Das Bild der Blutabrinnspuren aus den Wunden hat sich verändert, was die Rekonstruktion des Tathergangs erschwert.

Innere Verletzungen fangen beim holprigen Transport wieder an zu bluten, was die Aussage, ob sie dem Opfer zu Lebzeiten oder postmortal beigebracht wurden, unmöglich macht. Vielleicht haben sich auch die Leichenflecke verschoben, was die Frage, ob Fundort und Tatort identisch sind, un- beantwortet lassen wird. Die Leichenstarre ist gebrochen, weshalb die genaue Todeszeit nicht mehr festgestellt werden kann, was wiederum zu falschen Alibis führt und so weiter und so fort... Das alles wird pausenlos zu ermittlungstechnischen Fehlern führen, die den Staat und seine Justiz in der Verhandlung später Unsummen kosten.

Nach Ansicht von Walter Selter, einem von drei Generalstaatsanwälten Nordrhein-Westfalens, wird daher künftig alles wegfallen, was Kriminalitätsbekämpfung effektiv macht: "Ständig wird nach mehr Sicherheit geschrien, und dann trifft ein Ministerium solche Generalentscheidungen ohne Rücksicht auf Polizei und Justiz." Und Heinz Bremer, Oberstaatsanwalt für Tötungsdelikte in Düsseldorf, stellt fest: "Das gesamte Ruhrgebiet mit seinen zehn Millionen Einwohnern wird demnächst keinen einzigen Rechtsmediziner mehr haben."

Die Staatsanwälte wissen, wovon sie reden. Große Mordprozesse - gegen Serientäter etwa - sind beklemmende Beispiele dafür, dass Sparmaßnahmen bei der Todesermittlung letztlich immer zu Un- gunsten der Bevölkerung gehen, genauer: auf Kosten der Rechtssicherheit des Bürgers und zulasten des Steuerzahlers.  Solche  ausufernden  Mordprozesse  zeigen, dass bei Tötungsdelikten, die dem Täter  nicht sauber  nachzuweisen sind oder die zu  spät ans Licht kommen, fast immer im Vorfeld geschlampt wurde.  Der Mörder hätte  schon lange vor seiner Festnahme auffallen müssen.  Doch leider wurden seine  Opfer nicht fachgerecht  untersucht, in der  Regel nicht in die  Rechtsmedizin gebracht. Anstatt  durch Obduktion  einem unklaren Tod sofort zur Klarheit zu  verhelfen, wurde - aus Kostengründen - abgewartet, bis schließlich weitere Bluttaten zum Verdächtigen führten.

Große Schwurgerichtsprozesse demonstrieren außerdem, dass durch Knausrigkeit im Vorfeld von Ermittlungen auch finanziell keine Mark gewonnen ist. Ein einziger "versiebter" Fall verschlingt später Millionen: Da wird jahrelang nachermittelt und verhandelt. Da werden Gutachten und Gegengut- achten und Gegengutachten zum Gegengutachten erstellt. Zuerst gehen die Rechtsanwälte in Revi- sion, dann gehen die Staatsanwälte in Revision, und die aufwändigen und teuren Bemühungen um die Wahrheitsfindung zahlt der Bürger. Von dem, was ein einziger dieser Prozesse kostet, könnte man Tausende von Toten rechtsmedizinisch untersuchen lassen.

Insofern hat das Strafverfolgungswesen durchaus Ähnlichkeiten mit dem Gesundheitswesen: Wird ein Übel im Anfangsstadium erkannt, kann man es oft mit simplen Mitteln bekämpfen. Wird es nicht erkannt, breitet es sich aus und muss zu guter Letzt mit gewaltigem Aufwand niedergerungen wer- den. Nordrhein-Westfalens Justiz hofft deshalb stark, dass es ihrem Minister Jochen Dieckmann noch gelingt, den Plan seiner Kollegin im Kabinett zu kippen. Dieckmann selbst sagt, er könne es "nicht hinnehmen, dass hohe rechtspolitische Ziele untergehen im Wandel der Hochschulen".

Nicht nur Lehre und Justiz leiden, wenn ein Institut für forensische Medizin abgeschafft wird. Am zentralen Nerv trifft es auch den Bürger, denn die Versorgung der Bevölkerung ist die dritte große Aufgabe der Rechtsmedizin. Sie untersucht nicht nur Tote, sondern auch klinische Fälle: misshan- delte Kinder, vergewaltigte Frauen, zusammengeschlagene Männer, vernachlässigte Alte und fehl- behandelte Kranke.

Gerade in ihrer Patientenschaft unterscheidet sich die Rechtsmedizin grundsätzlich von allen anderen Fächern der Medizin: Ihre Klientel sind ausschließlich Opfer, schwer traumatisiert oder tot. Diese Patientengruppe ist nicht migrationsfähig. Schließt man an der Universitätsklinik die Abteilung Augenheilkunde, dann wandern die Augenkranken um die Ecke zu den Fachleuten in den städti- schen Krankenhäusern. Schließt man das Institut für Rechtsmedizin, werden die Toten, die Zer- schlagenen eben nicht mehr von Experten untersucht, sondern von Laien - wenn überhaupt.

Es sind die wehrlosesten dieser Gesellschaft, die den Kundenkreis der Rechtsmedizin ausmachen: Kleine Kinder, an denen entmenschte Erwachsene ihre Wut auslassen. Babys, die von Vätern mit Fäusten traktiert oder von ihren Müttern in kochendes Wasser gesetzt werden. Alte und pflege- bedürftige Menschen, die von Verwandten im Kot liegen gelassen werden, bis sie bei lebendigem Leibe auf die Knochen durchgefault sind. Frauen, die von ihren alkoholisierten Männern verge- waltigt und mit Fußtritten bearbeitet werden.

Derart Malträtierte werden bisher, wenn sie auf den Unfallstationen, in den Kinder- und Frauen- kliniken Verdacht erregen, an Ort und Stelle von einem rasch herbeigerufenen Rechtsmediziner untersucht. Hunderte solcher Hilferufe ergehen pro Jahr an die Rechtsmediziner in Nordrhein- Westfalen. Derartige Verletzungen wird in Zukunft kein forensischer Spezialist zu Gesicht bekom- men. Die Beurteilung der Gewalt- oder Vernachlässigungsspuren wird nun von Gynäkologen, von Internisten oder Kinderärzten vorgenommen werden, die - dank immer schlechter werdender Aus- bildung (siehe oben) - von forensischer Medizin immer weniger verstehen. Hier schließt sich der Teufelskreis.

Viele Ärzte können die Spuren der Gewalt nicht lesen

Bei einem Vergewaltigungsopfer etwa sieht man der Vagina oft gar nichts an. Die sicheren Zeichen für den "nicht-einvernehmlichen Geschlechtsverkehr", auf die vor Gericht so viel Wert gelegt wird, finden sich außerhalb des Zuständigkeitsbereichs von Gynäkologen. Es sind typische Griffspuren an den Armen, Blutergüsse - so genannte Widerlagerverletzungen - am Rücken, Hämatome an den Innenseiten der Schenkel. Die Anzeige der vergewaltigten Frau aber muss glaubhaft nachgewiesen und objektiviert werden, sonst steht vor Gericht Aussage gegen Aussage, und das Opfer verliert zur Ehre auch noch den Prozess.

Auch der Kinder wird sich künftig niemand mehr annehmen, der Misshandlungsspuren professionell lesen könnte. Viel zu viele Ärzte in den Kinderklinken glauben beim Anblick von Blutergüssen den immergleichen Lügen der Eltern von Sturz aus dem Hochstuhl oder vom Wickeltisch, bei Verbren- nungsverletzungen schlucken sie die stereotype Mär vom Unfall mit dem heißen Kochtopf, weil sie die Sprache der Verletzungsmuster - die einzige, wodurch ein Kind sich mitteilen könnte - nicht beherrschen. Nierenversagen und Knochenbrüche müssen aber als Misshandlungsfolgen gedeutet werden können. 400000-mal sahen sich nordrhein-westfälische Ärzte aller Disziplinen im vergange- nen Jahr angesichts von Verletzung und Verbrennung vor die Frage gestellt: Kann die vorgetragene Geschichte stimmen? Bei fast jeder Dauermisshandlung, die irgendwann zum Tode eines Kindes führte, ist das Opfer im Vorfeld mit Verletzungen zum Arzt gebracht worden, oft zu mehreren, die alle nacheinander die Zeichen von Quälerei nicht erkannt haben. Und anstatt die Sache einem Rechtsmediziner zu übergeben, der Polizei und Jugendamt einschaltet und das Opfer in Sicherheit bringen lässt, päppeln sie das geschundene Kleinkind wieder auf und schicken es nach Ausheilung ahnungslos in die Familienhölle zurück, bis es irgenwann von einem gedankenlosen Hausarzt den plötzlichen Säuglings- oder Unfalltod bescheinigt bekommt.

Viele Rechtsmediziner sagen: "Wüssten die Leute, in welchem Maße grausamste Kindesmisshand- lungen in unserem Land an der Tagesordnung sind, sie könnten nicht mehr schlafen." Und die Tendenz ist steigend. Die Zahlen von Kindesmisshandlung und Kindesmissbrauch sind in zehn Jahren um ein Drittel gestiegen. Die Häufigkeit schwerer Körperverletzung hat sich fast verdoppelt. Ausgerechnet in einer Zeit, in der Gewalttaten in der Bundesrepublik so häufig sind wie nie zuvor, fangen die Bundesländer an, die Rechtsmedizin abzuschaffen. Ein Ministerium, das so etwas durch- setzt, handelt verantwortungslos an seiner Bevölkerung. Eine Landesregierung, die es zulässt, ist an der Aufklärung von Verbrechen offenkundig nicht mehr interessiert.

Die Ergebnisse rechtsmedizinischer Untersuchungen haben für das Leben des einzelnen Menschen unvorstellbare Folgen. Für Schwache, für Alte, Kranke, Kleine, Verletzte, Obdachlose und Dro- genabhängige ist der Rechtsmediziner oft der letzte Anwalt. Doch wie sollen Menschen, die zu schwach sind, ihr eigenes Leben zu verteidigen, sich gegen die Schließung eines Instituts zur Wehr setzen? Klaus Püschel, Rechtsmediziner in Hamburg, formuliert das soziale Anliegen seines Fachs so: "Sagt mir, wie ihr eure toten und gefolterten Opfer untersucht und behandelt. Sagt mir, wie ihr die Täter identifiziert und verfolgt, und ich sage euch, wie diese Gesellschaft die Menschenwürde achtet."

Rechtsmediziner dienen - das ist ihr Selbstverständnis - der Wahrung der Menschenrechte. Deshalb rückten nach Beendigung des Kosovo-Krieges noch im Juli 1999 Ärzte aus allen rechtsmedizinischen Instituten Deutschlands freiwillig aus, um die Menschenrechtsverstöße auf dem Balkan zu dokumentieren. Doch nicht nur in Afrika, auf dem Balkan oder im Nahen Osten wird die Würde des Menschen mit Füßen getreten. Auch im Reihenhaus in München, in der Trabantenstadt in Hamburg und in der Villa in Berlin finden Verletzungen der Menschenrechte statt. Oft von der übelsten Sorte.

Ein krebskrankes Kind, das durch eine Operation vor dem drohenden Tod gerettet werden kann, ist kein Jota wichtiger als ein misshandeltes Kind, das durch Eingreifen der Rechtsmedizin aus der tödlichen Bedrohung gerettet werden kann. Und doch: Ist in einem Krankenhaus die Abteilung Kinderonkologie von der Schließung bedroht, laufen Eltern, Elternhilfevereinigungen und Medien Sturm. Wird dagegen die Rechtsmedizin geschlossen - wie es in Aachen und anderswo bald der Fall sein wird -, bleiben die öffentlichen Proteste aus. Das Heilen der klinischen Ärzte wird in Deutschland - zu Unrecht - sehr viel höher bewertet als der Dienst, den die Rechtsmediziner dem Opfer erweisen. Zumal, wenn es der letzte ist.

Die Gewaltzahlen sind so hoch wie nie zuvor. Doch ausgerechnet jetzt fangen die Bundesländer an, die rechtsmedizinischen Institute abzuschaffen. Eine Landesregierung, die so etwas zulässt, ist an der Aufklärung der Verbrechen offenkundig nicht mehr interessiert.

© beim Autor/DIE ZEIT 2000 Nr. 20


Nr. 02/1999

Bitte wegschauen!

Deutschland ist ein Paradies für Mörder. Viele Taten bleiben unerkannt. Das ganze System der Todesermittlung ist faul. Leichenbeschauer verstehen nicht viel vom Tod, Rechtsmediziner werden selten gefragt, und oft wollen Polizisten es so genau nicht wissen

von Sabine Rückert
 

Am 12. März 1998, um 9.32 Uhr, beginnen im westfälischen Lüdinghausen Ermittlungen in einem Todesfall. Sie werden ins Nichts führen, was gar nicht selten geschieht in dieser Republik. Zu klären ist die Frage: Wie starb Nithrsan Emmanuel?

Ihr verkohlter Babykörper wird an jenem Morgen aus einem verbrannten Kinderreisebett geborgen. 15 Monate alt ist sie geworden. Mit den Eltern und zwei Geschwistern lebte sie in einer Asylunterkunft. Ein Arzt bestätigt den Flammentod des Kindes. Die Geschwister werden mit Rauchvergiftung ins Krankenhaus geflogen.

Der Brandsachverständige diagnostiziert Brandstiftung. Das Feuer sei am Kinderbett gelegt worden. Die Kriminalpolizei schließt aus der Situation (drei Kinder eingesperrt in einem Raum), daß der zweieinhalbjährige Bruder der Toten wohl gezündelt haben müsse. Das leuchtet der Staatsanwaltschaft Münster ein: Sie gibt die kleine Leiche zwei Tage später zur Bestattung frei. Eine Woche nach dem Tod, am 19. März 1998 um 14.35 Uhr, werden die sterblichen Überreste der Nithrsan Emmanuel eingeäschert - auf Wunsch der Eltern.

Der Fall Emmanuel wäre damit abgeschlossen gewesen, wären nicht ein paar Milliliter Blut der kleinen Nithrsan auf der Welt zurückgeblieben. Auf Drängen des mißtrauischen Brandsachverständigen war der Leiche noch am Todestag eine Blutprobe entnommen worden. Zwei Tage nach der Einäscherung trifft das Ergebnis der Blutuntersuchung bei der Staatsanwaltschaft Münster ein: Im Blut ist kein Kohlenmonoxid. Das Kind muß bereits vor Ausbruch des Feuers tot gewesen sein.

Die Staatsanwälte hielten eine Obduktion für überflüssig

Führt ein Arzt die Leichenschau bei einem Verbrannten durch, kann er wegen der Verletzungen durch Hitze und Rauch nur selten genau feststellen, ob der Mensch durch Feuer oder schon zuvor durch ein Gewaltverbrechen umgekommen ist. Eine Brandstiftung, die kaschieren soll, daß jemand ums Leben gebracht wurde, gehört zu den Klassikern der Kriminalistik. Damit Tötungen nicht unerkannt bleiben, werden die Leichen geöffnet.

Den Ermittlern im Fall Emmanuel war davon wohl nichts bekannt. Die Staatsanwaltschaft hielt eine Obduktion für überflüssig - obwohl sie in solchen Fällen üblich ist. Der Brandsachverständige hatte mehrfach darauf gedrängt. Auch hörten die Ermittler erst nach der Kremation davon, daß die Familie Emmanuel dem Jugendamt schon längere Zeit wegen "emotionaler Kälte" gegenüber den Kindern aufgefallen war.

Die Mutter des toten Kindes sagte bei der Polizei aus, ihre Tochter habe gelebt, als sie den Raum verlassen und die Tür verschlossen habe. Nachbarn hatten Zweifel. Sie wollen Frau Emmanuel darauf hingewiesen haben, daß es brenne im Zimmer ihrer Kinder und daß Türen und Fenster verriegelt seien. Als die Frau nicht reagierte, hätten sie selbst die Fenster geöffnet.

Das alles sind Indizien, doch kein Beweis. Das einzige Beweismittel, das Corpus delicti,ist mit staatlichem Stempel zu Asche geworden. Fragt man die Staatsanwälte in Münster heute, woran das Flüchtlingskind gestorben sei, zucken sie bedauernd die Achseln: "Die Todesursache ist unklar." Der Fall wird in keiner Tötungsstatistik auftauchen. Wie so viele andere auch.

1996 starben in Deutschland 882 843 Menschen, 1249 davon wurden getötet - aus Berechnung, aus Affekt, auf Verlangen. Die Aufklärungsrate liegt bei 92 Prozent; so steht es in den offiziellen Zahlenkolonnen des Bundeskriminalamtes, Wiesbaden.

Schätzungsweise jeder zweite Mord kommt nie ans Licht

Doch es gibt noch andere Listen. Sie werden in den Leichenkellern der rechtsmedizinischen Institute geführt. Zufällig, bei wissenschaftlichen Reihenuntersuchungen etwa, durch überraschende Tätergeständnisse oder privatfinanzierte Obduktionen, geraten dort nämlich immer wieder Verstorbene auf den Seziertisch, die laut Totenschein ein natürliches Ende genommen haben. Bei manchem fördert erst die Autopsie das gewaltsame Sterben zutage. Wie oft, weist nun erstmals eine Studie der Gesellschaft für Rechtsmedizin nach: Unter 13 000 sezierten Toten waren 92, denen der Totenschein ein natürliches Ableben bescheinigte und die doch eines unnatürlichen Todes gestorben waren. Die meisten waren Opfer unerkannter Unfälle oder ärztlicher Kunstfehler geworden, zehn Personen allerdings waren offensichtlich getötet worden, ohne daß jemand es bemerkt hätte. Weitere 35 Personen waren mit unklarerTodesursache eingeliefert und ebenfalls von fremder Hand beseitigt worden.

Beunruhigend klingt die Studie aus 23 von insgesamt 38 rechtsmedizinischen Instituten erst, wo sie sich der Dunkelziffer bei Mord und Totschlag und den Zuständen bei der Leichenschauam Fundort zuwendet. Schon immer waren die Rechtsmediziner - im Gegensatz zu den Staatsanwälten - davon überzeugt, daß ungezählte Tötungsdelikte im geheimen geschehen und Ermittlungsstellen nie davon erfahren. Die Verfasser der Studie versuchen nun mit Hilfe der neuen Daten zum ersten Mal eine "vorsichtige und konservative" Hochrechnung, die zu dem Schluß kommt, "daß jährlich in der Bundesrepublik mit insgesamt 11 000 bis 22 000 nicht-natürlichen Todesfällen zu rechnen ist, die bei der Leichenschau als ,natürlich' klassifiziert werden. Darunter 1200 bis 2400 Tötungsdelikte." Das bedeutet: Mindestens jede zweite Tötung bleibt in Deutschland unerkannt.

"Jemand hat gute Chancen davonzukommen, wenn er nicht auf brutale Weise, also durch Stich, Schlag oder Schuß tötet", sagt Wolfgang Eisenmenger, Chef des Instituts für Rechtsmedizin in München, in liebenswürdigem Ton. Der Professor gehört zu den Kapazitäten auf seinem Gebiet. Im Tiefgeschoß seines Instituts werden jährlich an die 2000 Leichen geöffnet. Eisenmenger selbst hat sein Büro so stark überheizt, als wolle er sich von der Visite bei seinen unterkühlten Patienten erholen. "Ich bin berufsbedingt von der Bosheit der Menschen umgeben", sagt er, "deshalb halte ich es für möglich, daß es eine beträchtliche Zahl unentdeckter Täter gibt."

Für diese Annahme sprechen noch andere Gründe als die Natur des Menschen. In Deutschland kommt nur derjenige auf den Seziertisch der Gerichtsmedizin, dessen Todesumstände ohnehin obskur und alarmierend genug waren, um die Staatsanwaltschaft in Bewegung zu setzen. "Wer in Deutschland einen perfekten Mord begehen will, braucht sich nicht allzu viele Gedanken zu machen", sagt Alfred Du Chesne, ein Rechtsmediziner am Institut Münster. Auch er ein entzückender Herr, der zwischen Schädeln mit sauberem Durchschuß Platz genommen hat. "Die Chance, daß das Ganze gar nicht herauskommt, ist auch bei plumpem Verhalten sehr groß. Der Garant ist die Schlamperei bei der Leichenschau."

Vergrößert wird das Dunkelfeld obendrein, weil in Deutschland sehr wenige Sektionen vorgenommen werden. Nur zwei Prozent der Leichen kommen in die Gerichtsmedizin. Weitere sechs Prozent werden von Pathologen in den Kliniken untersucht, die aber über wenig kriminalistische Kompetenz verfügen und vor allem auf Krankheitsbefunde fixiert sind. In Schweden dagegen ist die Sektionsrate mehr als doppelt so hoch: 19 Prozent. Knapp 40 Prozent davon erledigen Gerichtsmediziner. In Schweden ist auch die Tötungsrate erheblich höher: Während in Deutschland 1996 auf 10 000 Verstorbene 14 Getötete kamen, waren es in Schweden 21. Dort werden etwa zehn Prozent der Mordfälle erst während der Autopsie entdeckt. Finnland, wo die Sektionsrate noch höher liegt, übertrifft das skandinavische Nachbarland auch in der Zahl der nachgewiesenen Tötungen: Auf 10 000 Verstorbene kamen dort 38 Menschen, die gewaltsam und von fremder Hand ihr Leben lassen mußten. Sind die Vergleichszahlen aus Skandinavien ein Indiz für die Ausmaße des Dunkelfelds? Besteht also ein Zusammenhang zwischen der Zahl der statistisch erfaßten Tötungen und der Häufigkeit der Sektionen? "Ja", sagt Professor Eisenmenger, "gemerkt haben wir es an den zu Tode mißhandelten Kindern in München. Von 1911 bis 1975 waren es an diesem Institut nur sechs Fälle. Dann fingen wir an, darauf zu achten und Kinderleichen zu sezieren. Von 1990 bis 1995 wiesen wir etwa 20 Fälle nach."

Der Doktor bescheinigte "plötzlichen Herztod", später gestand der Mörder

Das gilt nicht nur für kleine Kinder. Kunigunde Thoss war 84 Jahre, als sie ins Dunkelfeld der unerkannten Tötungen geriet. Am 11. Januar 1992 wurde sie von ihrem ehemaligen Mieter Horst David in Regensburg erwürgt. Ihr Mörder drückte der daliegenden Toten zum Abschied eine Zeitung in die Hand. Und entkam. Am Tag danach, es war ein Sonntag, betrat Helmut Thoss, der Sohn, besorgt die Wohnung der Mutter. Sie lag in der Küche, als habe sie "bei der Lektüre der Schlag getroffen". Der Notarzt bescheinigte: plötzlicher Herztod.

"Ich ließ mir das durch den Kopf gehen und rief anderntags bei der Polizei an", erinnert sich Helmut Thoss. "Ich sagte: Meine Mutter war kerngesund. Überprüfen Sie den Horst David, der wurde am Todestag meiner Mutter bei ihr gesehen. Der Mann hat zwei Gesichter." Der Staatsanwalt ließ die Leiche beschlagnahmen. Am Tag danach erhielt Thoss einen Anruf der Polizei: Seine Mutter sei zweifelsfrei eines natürlichen Todes gestorben. Er könne die Leiche auf eigene Rechnung obduzieren lassen, das koste allerdings 1500 Mark. Thoss machte einen Rückzieher: "Ich wollte sie nicht auseinandernehmen lassen", sagt er. "Sie war immerhin meine Mutter, die legt man doch nicht ohne Not auf den Seziertisch." Dann begrub er sie mit ruhigem Herzen.

Im Juni 1994 gestand der vom Sohn Verdächtigte Horst David den Mord an Kunigunde Thoss. Und zwei weitere Morde, die niemandem aufgefallen waren. Die Opfer waren ebenfalls alte Damen gewesen, und David hatte ihre Leichen so raffiniert drapiert, daß kein Arzt und kein Polizist gewaltsamen Tod geargwöhnt hatten. Nach der Exhumierung von Kunigunde Thoss stellte die Rechtsmedizin fest, daß ihr Zungenbein und Kehlkopf gebrochen worden waren - Zeichen für den Tod durch Erwürgen. 1995 wurde der "Würger von Regensburg" für insgesamt sieben Frauenmorde zu lebenslanger Haft verurteilt, von denen drei ohne sein freiwilliges Geständnis nie ans Licht gekommen wären.

Gerade wenn es - wie in den allermeisten Fällen - keine Sektion gibt, bleibt alle Verantwortung an einer einzelnen Person hängen: dem leichenbeschauenden Arzt. Er ist der Filter, der die natürlichen Toten von den anderen Toten trennt. Bei der Leichenschau soll festgestellt werden, ob der Betroffene durch Alter und Krankheit starb oder durch Unfall, Selbstmord, Mord. Hier entscheidet sich, ob die Kriminalisten später ermitteln werden oder nicht. Wenn Zweifel bleiben und keine eindeutige Todesursache feststellbar ist, muß die Polizei gerufen und die Staatsanwaltschaft informiert werden.

Die Leichenschau wird in Deutschland von jedem Arzt vorgenommen, egal, wie gut er mit den Phänomenen des Todes vertraut ist. Im allgemeinen ist es der Hausarzt oder der Notarzt, der das Ende diagnostiziert und die Todesursache zu erraten sucht. Doch auch Augenärzte, Gynäkologen, Laborärzte und Psychiater - Mediziner, die oft seit dem Studium keine Leiche mehr gesehen haben - beugen sich über die Hingeschiedenen. Sie sollen dann darüber befinden, ob es Anhaltspunkte für einen unnatürlichen Tod gibt. "Hellseherische Fähigkeiten", schreibt der Rechtsmediziner Wolfgang Spann in seinem Buch Kalte Chirurgie, verlange diese Aufgabe. Aber oft fehlt es bei den Leichenbeschauern schon am Grundsätzlichen.

Ein Arzt, der eine Leiche im Trauerhaus nackt auszieht, riskiert seinen guten Ruf

Ein Leichenfundort sieht fast immer harmlos aus. Verdacht keimt erst bei sorgfältiger Inspektion des Körpers und seiner Umgebung. Sachkundige Antworten verlangen Training, erhebliche Skepsis und kriminalistische Phantasie, und deshalb sollte eine Leichenschau auch sehr sorgfältig durchgeführt werden; so wollen es die Bestattungsgesetze der Länder. Zur Sorgfaltspflicht zählt es, Kontakt zum behandelnden Arzt des Toten aufzunehmen, für Ruhe und gute Beleuchtung zu sorgen und eine penible Untersuchung der nackten Leiche, insbesondere ihrer Körperöffnungen vorzunehmen.

Die Realität sieht anders aus. Die Ärzte kennen ihre Verstorbenen oft zu gut oder zu schlecht, um mißtrauisch zu werden. Sie schauen kurz ins gebrochene Auge, konstatieren den Exitus, fragen vielleicht noch die Verwandten und stellen den Leichenschein aus. Nach Untersuchungen in Münster wird der Tote nur in etwa 20 Prozent der Fälle entkleidet, nur jeder dritte Arzt entfernt die Kinnbinde, die Strangulationsmerkmale so trefflich verdecken kann. Es kostet den Arzt enorme Überwindung und oft auch die Sympathie der Angehörigen, wenn er in einem Trauerhaus die Leiche nackt auszieht und dann auch noch die Polizei ruft. So etwas kann den Ruf eines Arztes, gerade auf dem Lande, vernichten.

Es kommt daher vor, daß ein Hausarzt den Verwandten den Totenschein mitgibt, ohne die Leiche gesehen zu haben. Notärzte tragen bei Unbekannten ins letzte Dokument bisweilen groben Unfug ein, den Rechtsmediziner oder Amtsärzte später lesen müssen. In der Regel aber wird Herzschlag oder Herzversagen angenommen - was ein langjähriger Amtsarzt als "massenhafte Verlegenheitsdiagnose ratloser Mediziner" bezeichnet, die sich verheerend auf die deutsche Statistik der Todesursachen auswirke. Und so wundert es keinen Rechtsmediziner, wenn einer Toten mit elf Messerstichen im Leib, die vom aufgeregten Bestatter ins Institut gebracht wird, im Totenschein jäher Herztod bescheinigt ist - so geschehen in Hannover und mit vielen ähnlichen Fällen in Armin Mätzlers Standardwerk Todesermittlungen verewigt. Strafe müssen fahrlässige Leichenbeschauer nicht fürchten. Einer Meldepflicht für Mordtaten unterliegen sie nicht.

"Bei unappetitlichen Exemplaren wird die Leichenschau mit einem Blick von der Türe aus erledigt", sagt Volkmar Schneider, Professor für Rechtsmedizin in Berlin. Sein Institut ist für die zweite Leichenschau zuständig, die vor jeder Einäscherung üblich ist. Etwa einmal pro Woche halten seine Mitarbeiter wegen Unklarheiten einen Leichnam zurück, dem ein Arzt bereits den natürlichen Tod bescheinigt hatte. "Uns rutscht auch mal ein spurenarmer Mordfall durch", sagt Schneider, "zurück bleiben nur vier Pfund Knochenasche."

Es gibt Tötungsarten, die durch äußerliche Untersuchung kaum oder gar nicht zu erkennen sind. Dazu zählt die Vergiftung. Viele Stoffe sind sogar bei einer toxikologischen Analyse nicht auszumachen. Findet sich dann doch eine der 4000 bis 6000 gesuchten Substanzen, muß erst noch bewiesen sein, daß das Gift unfreiwillig in den Körper gelangte, was bei einer Überdosis Medikamente oder Rauschgift oft unmöglich ist. "Wir haben in den letzten 35 Jahren in Hamburg keinen Giftmord festgestellt", sagt Klaus Püschel, Chef der örtlichen Rechtsmedizin, "Sie glauben doch selber nicht, daß hier in drei Jahrzehnten keiner vergiftet worden ist!" Der Erstickungstod des Säuglings, der tödliche Treppensturz der Greisin, der finale Badewannenunfall des Herrn in den besten Jahren - das sind typische "spurenarme" Tötungsdelikte, die der Stand der Rechtsmediziner haßt und fürchtet. Hier stößt auch der Experte oft an die Grenze dessen, was sich beweisen läßt.

Ein Leichenkeller wirkt auf den ersten Blick wie eine Großküche: Kacheln, Neonlicht, deckenhohe Metallschränke. In Kühlfächern liegen die Toten übereinandergestapelt. Entseelt wie Wachspuppen. Manche Gestalten sind dunkel und eingeschrumpft. Sie lagen wochenlang unter freiem Himmel. Bei anderen ist der ganze Körper von Maden zerfressen. Wie will einer da noch die Todesursache feststellen? Den Einstich einer tödlichen Injektion zum Beispiel?

In einem hochzivilisierten Staat wie dem deutschen, der jede Lebensregung reglementiert, der jeden Quadratmeter irgendeinem Nutzungsplan zuführt und der von gläsernen Bürgern bevölkert wird, ist es offenbar möglich, jemanden in aller Stille ins Jenseits zu befördern. Warum auch nicht? Hier sind ja auch laut Polizeistatistik 7500 Staatsangehörige wie vom Erdboden verschluckt. Hier kompostieren ja auch Tote fünf Jahre in ihrer Wohnung, ohne daß es einen kümmerte. Hier werden durch puren Zufall Skelette entdeckt, die in Plastiksäcken auf Dachböden vermodern. Hier bringt das Klinikpersonal serienweise Patienten mit Kaliumchlorid- oder Luftinjektionen um, ohne daß es jemandem weiter auffiele. Unterhalb der zivilisierten Selbstverständlichkeit finden Dinge statt, die die Vorstellungskraft des Bürgers überfordern. Und doch sind sie allesamt geschehen: 1998 in Hamburg. 1975 in Hamburg. 1986 in Wuppertal. 1990 in Gütersloh. Und sie geschehen weiterhin im stillen. Betrachtet man die Welt aus der Perspektive der forensischen Mediziner, ist das Ungeheuerliche alltäglich und allgegenwärtig. Sie erleben, wie oft eine Untat nur durch die beiläufige Aufmerksamkeit einer einzigen Person aufgedeckt wird. Sie fragen sich: Und wieviel öfter nicht?

Wenn die staatliche Ermittlungsmaschinerie erst einmal angeworfen ist, arbeitet sie präzise, mit hohem Aufwand und großem Erfolg. Aber wann kommt es schon dazu? Nimmt man die Zustände bei der Leichenschau zum Maßstab, herrschen in Deutschland mittelalterliche Verhältnisse. Schon 1983 stellten die Generalstaatsanwälte der Bundesländer und der Generalbundesanwalt fest, daß "die Leichenschau die sichere Feststellung nicht-natürlicher Todesfälle nicht gewährleistet" und daß "hierdurch die Erkennung und Verfolgung von Straftaten gegen das Leben und damit ein gravierendes rechtsstaatliches Interesse gefährdet ist". Sie plädieren daher für neue Gesetze, die nur speziell ausgebildeten Ärzten die Leichenschau lege artis erlauben. Diese amtlichen Leichenbeschauer - es gibt sie in anderen Ländern - wären nicht nur Experten, was die Zeichen und Spuren am Verstorbenen angeht, sie wären in ihrem Urteil auch frei von Zwängen.

Getan hat sich seither nichts. "Tote haben keine Lobby", sagt Bernd Brinkmann, Direktor des Instituts für Rechtsmedizin in Münster. "Die machen bestimmt keinen Sternmarsch nach Bonn. Wenn alle unerkannt Gemordeten sich zum Justiz- und Gesundheitsministerium aufmachten - die Gesetze wären binnen weniger Tage reformiert."

Mund und Nase der Toten waren blutig, doch der Leichnam wurde rasch beerdigt

Vielleicht wäre Herrn Dr. Schloßmachers Patientin auch dabei auf diesem Sternmarsch. Der Tod dieser älteren Frau ist es, der dem Arzt keine Ruhe läßt. Schloßmacher, Internist mit einer großen Praxis auf dem Lande in Nordrhein-Westfalen, kannte die Patientin seit vielen Jahren. "Es gab keine aktuellen Erkrankungen, die einen plötzlichen Tod hätten erwarten lassen", sagt er. Völlig überraschend wurde er im November 1997 von der Kriminalpolizei angerufen und gebeten, die Leichenschau an der um die Mittagszeit tot Aufgefundenen vorzunehmen. Als Schloßmacher am Abend in die Leichenhalle kam, lag die 67jährige bereits starr im Sarg. Die Beleuchtung war so trüb, daß eine Leichenschau nicht möglich war, Schloßmacher erkannte gerade noch Blut in Mund und Nase der Toten. Beunruhigt kreuzte der Arzt im Leichenschein "ungeklärte Todesursache" an und empfahl dringend eine Obduktion. Einige Tage später erfuhr Schloßmacher, daß der Leichnam unverzüglich von der Staatsanwaltschaft freigegeben und bereits ins Grab gesenkt worden war. Eine Sektion hatte nicht stattgefunden, obwohl auch eine Freundin der Verstorbenen zur Polizei gegangen war und einen Mordverdacht geäußert hatte.

"So eine ungewöhnliche Sache habe ich noch nie erlebt", sagt Schloßmacher, bestürzt über die Gleichgültigkeit von Staatsanwaltschaft und Polizei. "Ermittler, die sich so verhalten, haben offensichtlich kein Interesse an der Aufdeckung rätselhafter Todesumstände." Zweifel an der Ernsthaftigkeit von Strafverfolgungsbehörden waren dem eingesessenen Landarzt bereits früher gekommen. Schon mehrfach hatte ihn bei einer Leichenschau die Ahnung beschlichen, daß der Tote "geschickt erledigt" worden sein mußte. Schon mehrfach war sein Verdacht folgenlos geblieben. Keine Obduktion, keine Nachforschung. "Die Sache berührt mich auch als Staatsbürger", sagt Schloßmacher. Seit etwa zehn Jahren diagnostiziere er eine fortschreitende Ermattung des Verfolgungssystems, eine "chronische Übermüdung des Staates und seiner Diener".

Das ganze System ist marode, das wissen besonders die Rechtsmediziner. Immer wieder beklagen sich Haus- und Notärzte bei ihnen über die Polizei. Unverhohlene Ignoranz am Ereignisort ist noch der mildeste Vorwurf. Viele Doktoren fühlen sich von den Beamten, die sie eigentlich gerufen haben, um Klarheit in die "Leichensache" zu bringen, unter massiven Druck gesetzt: Sie sollen wider besseres Wissen und gegen ihr Gewissen den natürlichen Tod feststellen (siehe Der muß noch viel lernen, Seite 10). Schon 1988 baten die Gesundheitsminister der Länder ihre Kollegen für Justiz und Inneres, darauf hinzuwirken, daß die Beamten der Polizei auf die ärztliche Leichenschau keinen Einfluß nähmen. Der Rechtsmediziner Brinkmann aus Münster hat im Sommer 1998 in einer kleinen Pilotumfrage 100 westfälischen Ärzten und Notärzten einen anonymen Fragebogen zugeschickt. 37 von ihnen schickten den Bogen ausgefüllt zurück. Die Hälfte gab an, bei der Leichenschau schon von Beamten bedrängt worden zu sein, "natürlicher Tod" anzukreuzen, um der Polizei Ermittlungsaufwand zu ersparen. Manch einer gestand, weich geworden zu sein und so vielleicht die Aufklärung eines Mordfalles unmöglich gemacht zu haben.

Widersetzen sich die Ärzte dieser Aufforderung zur Urkundenfälschung, schlägt ihnen manchmal blanke Aggression entgegen, die bis zur Strafandrohung eskalieren kann. "Wie Furien gehen sie in die Luft", sagt ein norddeutscher Notarzt, "weil sie dann Arbeit kriegen."

Gerade am Wochenende ist die Polizei in manchen ländlichen Gebieten stark ausgedünnt. Einige Kripo-Beamte haben einen so weitflächigen Einsatzbereich abzudecken, daß sie bei einem Leichenfund allein zwei Stunden Anfahrtszeit benötigen. Am Wochenende, sagt ein anderer Notarzt, seien die Kriminaler deshalb besonders "viskös", so lautet der medizinische Fachausdruck für zähflüssig. Der Notarzt kommt zum beklemmenden Schluß: "Zwischen Freitagabend und Sonntagabend darf gemordet werden, was das Zeug hält." Ein Scherz - allerdings mit einem wahren Kern.

Das wissen auch die Mitarbeiter in den Gesundheitsämtern, wo jeder Totenschein für die Statistik ausgewertet wird. Dort sitzen Ärzte, die kein gutes Gefühl haben beim Gedanken an den einen oder anderen Exitus. Auch sie reden nur zögerlich und inkognito darüber: "Das ist ein heißes Eisen." Da kommen Todesbescheinigungen auf den Tisch, auf denen steht, jemand habe sich in selbstmörderischer Absicht in den Hinterkopf geschossen. "Haben Sie so was schon mal gehört?" fragt ein Arzt einer Gesundheitsbehörde. "Ich gebe die Sache sofort an die Polizei - und nichts passiert! Die Gleichgültigkeit wird zelebriert in Deutschland, und die ganze Verwaltung macht mit." Auch seine Kollegen in anderen Ämtern haben sinistre Fälle zusammengestellt, bei denen junge oder gesunde Menschen urplötzlich tot dalagen und kein Arzt, kein Polizist es für nötig befunden hatte, der Sache nachzugehen. Eine ähnliche Fallsammlung aus dem Raum Stuttgart durch den damaligen Landespolizeipräsidenten und den Chef der Rechtsmedizin in Tübingen hatte 1983 die Generalstaatsanwälte auf den Plan gerufen.

Die Problemlage ist dieselbe geblieben - sicherlich mit starken regionalen Schwankungen, abhängig von der Arbeitsmoral der jeweiligen Staatsanwaltschaft und vom Pflichtbewußtsein der einzelnen Kripo-Beamten -, und jeder Rechtsmediziner kennt sie. "Die Polizei ist immer mächtiger geworden in den vergangenen Jahren", sagt einer von ihnen, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, "sie kann sich immer dreistere Rechtsverletzungen erlauben."

"Jeder kleine Unterschichtskriminelle kann die Polizei herumheben"

© Die Zeit 02/1999

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Die erschütternden Recherchen der “ZEIT”- Redakteurin Sabine Rückert entlarven unseren Rechtstaat. Unglaublich - aber wahr:

Die Justiz will von vielen Verbrechen  nichts wissen.

Wie der Staat Mord, Totschlag, Mißhandlung und Vergewaltigung  fördert, in dem er das Entdeckungsrisiko für die Täter minimiert.

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